: Schach dem Alter!
Der 13-jährige Chinese Bu Xiangzhi wird zum jüngsten Großmeister aller Zeiten. Nun fragt sich die Schachwelt, ob Kinder tatsächlich immer schlauer werden ■ Von Hartmut Metz
Beim „Spiel der Elefanten“, dem rund 800 Jahre alten Chinesischen Schach, dürfen die beiden vierbeinigen Kolosse auf jeder Seite den Gelben Fluss nicht überschreiten. Der Koloss China kennt hingegen keine Grenzen im Sport. Selbst vor einer westlichen Domäne macht das Volk der Tischtennis-Asse nicht Halt: Anstatt wie über 300 Millionen Asiaten ausschließlich der eigenen Variante Xiangqi zu frönen, fördert das Reich der Mitte auch die weltweit bekanntere Version auf den 64 Feldern.
Mit immer größerem Erfolg. Bei den Damen setzt China mittlerweile alle matt, selbst Georgien. 1991 raubte die 21-jährige Xie Jun der Frauenhochburg den Titel. Auch bei der Schacholympiade 1998 triumphierte das Team der amtierenden Weltmeisterin. „Die Chinesen nehmen Schach sehr ernst und trainieren emsig mit ihrem Nachwuchs. Das merkte ich bereits bei den Jugendweltmeisterschaften“, erinnert sich Peter Leko, vor gar nicht so langer Zeit selbst ein Wunderkind. Nun unterbot einer des Milliardenvolks eine alte Bestleistung des inzwischen 20-jährigen Weltranglisten-Neunten aus Ungarn. Bu Xiangzhi hat im Alter von 13 Jahren, 10 Monaten und 13 Tagen als jüngster Schachspieler aller Zeiten den Großmeistertitel errungen. Die höchste Würde des königlichen Spiels erkämpfte sich der stämmige Junge durch 6:3 Punkte und einen ersten Platz beim Turnier in Qingdao.
Dabei galt der Rekord der amerikanischen Legende Bobby Fischer über drei Jahrzehnte als unantastbar. Der spätere Weltmeister schaffte 1958 die dritte erforderliche Großmeisternorm im Alter von 15 Jahren, 6 Monaten und 1 Tag. Seit aber die weltbeste Schachspielerin, Judit Polgar, 1990 rund einen Monat früher zum Zug kam, sank das Alter der jüngsten Großmeister regelmäßig: Leko (14 Jahre, 4 Monate und 22 Tage), Etienne Bacrot (Frankreich/14 Jahre, 2 Monate) und Ruslan Ponomariow (Ukraine/14 Jahre, 17 Tage) hießen die Vorgänger von Bu Xiangzhi, der mit 6 Jahren das westliche Schach erlernte. Leko schließt nicht aus, dass irgendwann sogar ein Acht- oder Zehnjähriger Großmeister wird. „Es gibt keine Grenzen nach unten“, meint auch Judit Polgar (23): „Ich wäre nicht überrascht, wenn das nächste Kind nur elf Jahre und acht Monate alt ist.“
Die regelmäßigen Steigerungen fußen allerdings nicht allein auf noch schlaueren kleinen Schachgenies. „Was Bobby damals schaffte, bleibt einmalig“, urteilt Leko über die Leistung seines heutigen Trainingspartners in Budapest und setzt fort, „wer kennt heute noch alle Großmeister?“ Trugen vor vierzig Jahren nur wenige den höchsten Titel des Weltverbandes, sind es heute rund 800. Das Weltranglisten-System begünstigt die Inflation. Gab es zu Zeiten von Weltmeister Fischer nur eine Hand voll Koryphäen mit der großmeisterlichen Elo-Zahl von 2.600, verbuchen momentan neun Könner bereits mehr als 2.700 Elo. „Das ist die neue Super-Kategorie“, meint Judit Polgar.
„Es ist nicht mehr so schwierig, die geforderte Spielstärke und die drei Normen zu haben“, ergänzt Peter Leko. Der Grund: Ein Großmeister-Aspirant muss zwar wie früher in der Weltrangliste 2.500 Elo erreichen, aber die breite Basis verwässert das Niveau.
Trotz Bu Xiangzhi plagen Leko allerdings wenig Sorgen, auch die Herren erlägen bald einer chinesischen Übermacht. Die große Mauer aus „fehlenden Vergleichen mit den Topleuten“ halte die chinesischen Großmeister auf Distanz. Dafür dominieren sie zusammen mit Auswanderern „ihr“ Spiel. Als sich der ehemalige WM-Kandidat Robert Hübner einst in die Höhle des Drachen wagte, landete er bei einem Xiangqi-Turnier unter „ferner liefen“.
Zwar entwickelten sich beide Varianten aus dem indischen Tschaturanga, aber die Regeln sind sehr verschieden. Xiangqi fehlt auf den 90 Linien-Schnittpunkten seines Brettes die Leichtigkeit des Schachs. Von den 16 roten und grünen Figuren bewegen sich nur die zwei Wagen so hurtig wie die Türme im europäischen Schach. Alle anderen Figuren aber haben im Vergleich zu ihren abendländischen Entsprechungen keine allzu großen Entfaltungsmöglichkeiten. So ziehen die Elefanten zwar prinzipiell wie Läufer, aber nur maximal zwei Linien diagonal, und der Gelbe Fluss in der Mitte der zehn waagrechten Linien ist ihr Rubikon. Die fünf Soldaten erwachen erst über diesem zu mehr Leben, marschieren danach nicht nur vorwärts, sondern auch waagrecht. Aber gelangt einer auf die feindliche Grundlinie, verharrt er dort ewig ohne Beförderung zu einer stärkeren Figur.
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