Schach-WM in Kasachstan: Auf der Suche nach dem Zweitbesten
Bei der Schach-WM wird der Titelverteidiger vermisst. Dafür wird es einen neuen Weltmeister geben. Der Russe Ian Nepomniachtchi überzeugt bislang.
Das von Schachlegende Garri Kasparow erwartete hochklassige Duell und eine „tolle Show“ hat das Match bisher nur einmal geliefert. Zweimal musste Ian Nepomniachtchi mit Weiß gegen Ding Liren nach faden Partien in Friedensschlüsse einwilligen. Dafür trumpfte der Russe in der zweiten Begegnung mit Schwarz auf und zerpflückte den in der Eröffnung zu verhalten spielenden Rivalen im großen Stil. „So zu verlieren … Ich versteh’ nicht, was passierte. Ich habe in der Partie nahezu alles übersehen“, zeigte sich der Chinese frustriert. Nach drei der 14 Partien bis 1. Mai führt so „Nepo“, wie der 32-Jährige kurz genannt wird, bei der WM mit 2:1.
Wobei das Wort Weltmeisterschaft für Kasparow zu viel des Guten ist. Wie als russischer Oppositioneller macht die 59-jährige Legende aus seinem Herzen keine Mördergrube: Den mit zwei Millionen Euro dotierten Zweikampf im kasachischen Astana könne man „kaum eine WM nennen“. Der Weltmeister von 1985 bis 2000 stellte klar: „Für mich sollte bei einem WM-Kampf der stärkste Spieler auf dem Planeten antreten – und das ist bei diesem Duell nicht der Fall.“ Ja, das Match ohne Magnus Carlsen sei eine „amputierte Veranstaltung“, unterstreicht Kasparow und findet es „schade“, dass der Norweger nicht seinen Titel verteidigt.
Den Verzicht hatte Carlsen schon lange angekündigt. Der 32-Jährige verspürte keine „Motivation“ mehr, „eine weitere Weltmeisterschaft zu bestreiten“. Nach fünf WM-Siegen „habe ich nicht viel zu gewinnen“, meinte der Dominator auf den 64 Feldern – und überließ dem Weltranglistenzweiten und -dritten freiwillig das Feld. Ein Novum in der 1886 beginnenden WM-Historie, zumal der Weltranglistenerste seine Schachkarriere fortsetzt!
Schon bevor „Nepo“ das WM-Kandidatenturnier in Madrid 2022 erneut gewann, hatte Carlsen angekündigt, nur noch den Titel zu verteidigen, wenn das Ausnahmetalent Alireza Firouzja sein Herausforderer würde. Doch der gebürtige Iraner, der mittlerweile unter französischer Flagge spielt, verlor beim Kandidatenturnier zweimal gegen „Nepo“ und landete mit 6:8 Punkten weit abgeschlagen nur auf Rang sechs unter den acht Qualifikanten. Im April rückte der potenzielle 19-jährige Kronprinz aber dem Russen und Ding Liren in der Weltrangliste mit 2.785 Elo-Punkten auf die Pelle.
Lehren aus vergangenen Schlappen
Durch Carlsens Verzicht kommt Ding als erster Chinese bei der WM glücklich zum Zug, obwohl der 30-Jährige mit 8:6 Punkten beim Kandidatenturnier in Madrid von Nepomniachtchi deklassiert wurde. Der Russe holte 1,5 Zähler mehr in den 14 Runden – was Welten im Schach sind. Diese Überlegenheit zeigte er auch zum Auftakt in Kasachstan. „Nepo“ wirkt stabiler als früher und hätte wohl Carlsen einen spannenderen Kampf als vor zwei Jahren geliefert, als er mit 3,5:7,5 unterging. Nepomniachtchi zog seine Lehren aus der Schlappe und hält sich auch selbst für gereifter: „Ich hoffe, meine Fähigkeiten haben sich etwas verbessert.“ Zudem vertraut der Weltranglistenzweite darauf, dass sein Sekundantenteam nun breiter aufgestellt ist und mehr gute Eröffnungsideen liefert.
Ding brauchte derweil doppeltes Glück, damit er in den Kampf um 1,2 Millionen Euro für den neuen Weltmeister eingreifen durfte. Der 30-Jährige rückte nur als Elo-Bester ins Kandidatenturnier nach, weil der gebürtige Ukrainer Sergej Karjakin als glühender Putin-Verehrer für sechs Monate gesperrt worden war und so die Chance auf einen zweiten WM-Kampf gegen Carlsen verpasste. Sein Landsmann Nepomniachtchi ist dagegen wie Putin-Feind Kasparow völlig unverdächtig, ein Kriegstreiber zu sein.
Der Weltranglistenzweite unterschrieb im März 2022 mit 43 anderen Großmeistern einen offenen Brief, in dem der russische Angriffskrieg gegeißelt wurde und die Unterzeichner ihre Solidarität mit dem ukrainischen Volk und ihren Schachkollegen bekundeten. Der Russe spielt in Kasachstan unter dem blau-weißen Banner des Weltverbands Fide. Da-rauf prangt der friedliche lateinische Slogan „Gens una sumus“ („Wir sind eine Familie“).
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