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SanssouciVorschlag

■ Zeichenflut: Ringvor- lesung über Körpersprache an der TU

„Ich lebe in einer Gesellschaft von Sendern“, bemerkte der französische Literaturtheoretiker Roland Barthes einmal und fand dies recht beklagenswert. Denn eine Gesellschaft von Sendern, so Barthes Diagnose der Moderne, sei eine Gesellschaft, die den menschlichen Körper auf nur eine einzige seiner Funktionen reduziert: auf die der Sendung von Zeichen. Das Phänomen, das Barthes hier im Auge hat, ist wohl jedem sattsam bekannt. Egal wo wir hinkommen, überall wimmelt es von Leuten, die es nicht lassen können, Zeichen zu produzieren und uns mit diesen ungefragt und unaufhörlich zu bedrängen. Ständig treffen wir auf jemanden, der uns ein Buch, einen Prospekt oder ein Protestschreiben in die Hand drückt. Gegenüber dieser reduzierten Form des Austauschs rühmte Barthes das Küssen, denn beim Küssen sei der Körper nicht bloß Sender von Zeichen, sondern der Körper des Küssenden sei dabei selbst das Zeichen, das zwischen den beiden zirkuliert. Daß Zeichen und Sender derart zusammenfallen, macht indes nicht nur das Küssen aus, sondern es charakterisiert den Unterschied, der allgemein zwischen sprachlichen Äußerungen und Äußerungen in Form von Mimik und Gestik besteht. Wenn wir die Stirn runzeln, mit dem Zeigefinger drohen, lächeln oder wütend schnauben, dann ist unser Körper beides zugleich: sowohl Sender als auch Zeichen. Daß der menschliche Körper nicht nur Zeichen von sich gibt, sondern sich selbst aus Zeichen zusammensetzt, die verstanden werden wollen, hat die Sprachwissenschaft jedoch lange Zeit nicht interessiert – mit dem Ergebnis, daß es zwar Lexika für jede beliebige gesprochene Sprache, doch bislang noch keines für Körpersprachen gibt. Das wird sich ändern, denn seit einigen Jahren arbeiten WissenschaftlerInnen vom Institut für Linguistik der TU an einem Projekt, das sich mit der systematischen Analyse menschlicher Gebärden beschäftigt. Ein Arbeitsziel dieser Forschungsgruppe ist die Erstellung eines „Lexikons der Berliner Alltagsgebärden“. Als eine Art „work in progress“ hat ihr Leiter, der Linguistikprofessor Roland Posner, eine Ringvorlesung für das Sommersemester 95 organisiert. Ihr Thema „Körperbewegungen: Ihre Bedeutung und Notation“. Eingeladen sind dazu nicht nur professionelle Gebärdenforscher, sondern auch Kunst- und Literaturwissenschaftler, die der Frage nach der Bedeutung der Gebärden in ihrem jeweiligen Gebiet nachgehen. So wird es nicht nur über Gebärden im Alltag („Schulterzucken und Stirnrunzeln: Gesten in der Idiomatik“ am 22. 5.) gehen, sondern ebenso um ihre Bedeutung in der bildenden Kunst („Systematik und Notation der Gesten in mittelalterlichen Miniaturen“ am 29. 5.), in der Literatur („Körpersprache im Don Quichote von Cervantes“ am 1. 6.) und beim Theater („Mimik und Gestik im Theater der Aufklärungszeit“ am 15. 6.). Bis es am Ende der Vorlesungsreihe keine Bewegung des Körpers mehr geben wird, die nicht auf der Landkarte der Gebärden ihren Platz gefunden hat. Andrea Kern

Ringvorlesung „Körperbewegungen: Ihre Bedeutung und Notation“, jeden Donnerstag um 20 Uhr im Hauptgebäude der TU, Raum H 106, Straße des 17. Juni 135, Charlottenburg.

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