Samtene Revolution in Prag: Totgesagte leben länger
Vor dreißig Jahren: In Prag soll Stasi-Mitarbeiter Ludvík Zifčák das Regime retten. Seine Mission: eine Leiche darstellen. Doch das geht schief.
Viele von denen, die an diesem späten Abend auf der Nationalstraße unterwegs sind, waren damals noch nicht geboren. Dennoch legen auch die Jüngeren an einem kleinen Laubengang Blumen an das Mahnmal mit den flehenden Händen ab, das dort in die Wand eingelassen ist. Manche zünden eine Kerze an. Sie stehen für die Opfer des Massakers, als das die Tschechen den Auftakt ihrer Revolution bezeichnen. Diese begann mit dem Einsatz von Schlagstöcken durch die Bereitschaftspolizei des kommunistischen Regimes.
Das lag an jenem 17. November 1989 schon weitgehend in Trümmern, ohne dass dies den Machthabern wirklich bewusst war. Die Sowjetunion hatte sich unter dem Reformer Michael Gorbatschow von der Doktrin Leonid Breschnews verabschiedet, nach der die Staaten des Ostblocks nur über eine eingeschränkte Souveränität verfügten und die UdSSR selbst das Recht habe, dort gegen oppositionelle Bestrebungen einzugreifen. In Polen stand seit August 1989 der Bürgerrechtler Tadeusz Mazowiecki an der Spitze der Regierung, Ungarn hatte sich im Oktober zu einer freien und demokratischen Republik erklärt. Die Berliner Mauer war seit acht Tagen gefallen.
Nur in der Tschechoslowakei herrschte noch immer relative Ruhe. Der politische Untergrund beschränkte sich auf die relative kleine Zahl von etwa 1.200 Personen in den großen Städten wie Prag und Brünn. Reformen von oben, so wie in Ungarn, schienen ausgeschlossen. In der tschechoslowakischen Hauptstadt herrschten noch immer dieselben grauen Männer, die zwanzig Jahre zuvor nach der Niederschlagung des Prager Frühlings von Moskau aus eingesetzt worden waren.
Im Untergrund: Sascha Vondra, der Dissident
„Die waren natürlich nicht an Reformen interessiert, aber überzeugt, beim anstehenden Parteitag im Jahr kritiklos wie immer bestätigt zu werden und so auf ewig weiterzumachen“, schmunzelt Sascha Vondra dreißig Jahre später. Damals war Vondra gerade einmal 28 Jahre alt und eines der prominenten Gesichter der jungen Generation von Dissidenten. „Ich verstand mich damals als professioneller Herausgeber von Untergrund-Zeitschriften, sogenannten Samizdats“, erzählt Vondra.
Nachdem er sein Geologiestudium Mitte der 1980er mit Promotion beendet hatte, schlug Vondra eine damals typische Dissidentenkarriere ein: der Schein fürs Regime in Form einer offiziellen, anspruchslosen Arbeit. Und das Sein hinter verschlossenen Türen. „Ich arbeitete zum Beispiel als Heizer. Aber in Wirklichkeit machten wir unsere Samizdats, hörten Radio Freies Europa und lebten in einer Art Parallelgesellschaft“, sagt Vondra.
Hätte Sascha Vondra am Abend des 16. November 1989 ein weitsichtiger Zeitgenosse prophezeit, dass das Regime de facto nur noch einen Tag bestehen würde, hätte er diesen wohl ausgelacht. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ernsthaft damit rechnen, dass noch vor Jahresfrist der Dichter und Dissident Václav Havel als Staatspräsident auf der Prager Burg einziehen würde.
Unter falschem Namen: Ludvík Zifčák, der Stasi-Mann
„Das haben wir jedenfalls nicht geplant“, brummt Ludvík Zifčák und verschränkt die Arme trotzig vor seiner Brust. Glaubte Sascha Vondra am Vorabend der Revolution noch an eine Karriere als Regimegegner und klandestiner Herausgeber, so bereitete sich sein Altersgenosse Ludvík Žifčák auf eine ganz andere Mission vor. Als überzeugter Kommunist war er zuerst in die Partei und dann in die Armee eingetreten. Nach einem kurzen Aufenthalt in Afghanistan – „logistische Sachen“ – tritt er einer Eliteeinheit der tschechoslowakischen Staatssicherheit, abgekürzt StB, bei.
Ludvík Zifčák
Unter dem falschen Namen Milan Růžička, einem angeblichen Studenten aus der Stadt Ostrava, infiltriert im Sommer 1989 die Dissidentenbewegung. „Wir hatten da überall unsere Leute“, lacht Žifčák, und in seiner Stimme ist auch heute noch eine gewisse Verachtung zu hören. „Diese paar Dissidenten? Denen konnten wir doch nicht den Staat überlassen“, sagt er. „Da waren die meisten Säufer oder irgendwelche merkwürdigen Gestalten“, schnaubt Žifčák.
„Dass das Regime sich ändern musste, das war uns schon im Sommer 1989 klar. Viele Menschen waren mutiger geworden und begannen, mit uns Dissidenten zu sympathisieren“, erinnert sich Sascha Vondra. Das Pflänzchen der Revolution wuchs, doch niemand rechnete damit, dass es so abrupt aufblühen würde. „Ein Wendepunkt war die Palach-Woche im Januar 1989“, glaubt Vondra.
Prügel-Orgien der Polizei
Die Palach-Woche, das war eine Serie von Demonstrationen anlässlich des 20. Todestags des Studenten Jan Palach, der sich 1969 auf dem Wenzelsplatz aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings selbst verbrannt hatte. Die Polizei ging äußerst brutal gegen die Demonstranten von 1989 vor. Diese Brutalität, mit der die Kommunisten auf die meist jungen Demonstranten einprügeln ließ, entblößte das Regime vor dem Volk. „Da waren es dann plötzlich keine weltfremden Dissidenten mehr, die mit Schlägen auseinandergetrieben wurden, sondern Söhne und Töchter, Enkel und Nichten“, meint Sascha Vondra im Rückblick.
Sascha Vondra
Über den Sommer hinweg hatte das Regime seine Grenzen weiter ausgedehnt, indem es versuchte, sämtliche Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Im Frühherbst 1989 durften die Prager dann live den Exodus Tausender DDR-Bürger mitverfolgen, die über die bundesdeutsche Botschaft auf der Prager Kleinseite gen Westen flüchteten. „Viele waren den Sommer über mutiger geworden und begannen mit uns Dissidenten zu sympathisieren“, erinnert sich Vondra.
Am 17. November 1989, einem Freitag, macht sich Vondra zusammen mit seiner Frau und einer Kollegin aus Polen zu einer weiteren Demonstration auf, schon der dritten seit einem Monat. Im Studentenviertel Albertov südlich des Stadtzentrums ist ein Gedenkakt zum 50. Jahrestag der Studentenproteste gegen die Nazi-Besatzung und ihrer brutalen Niederschlagung im November 1939 anberaumt. In der ohnehin angespannten Atmosphäre, acht Tage nach Fall der Berliner Mauer, schlägt die Pietät jedoch schnell in Protest um. Ein Gruppe von Studenten will den Zug auf den Vyšehrad leiten, dem sagenumwobenen Felsen hoch über der Moldau, wo die 900 Jahre alte Peter-und-Paul-Basilika wie auch der Heldenfriedhof Slavín an die Vergänglichkeit der Zeit mahnen. Doch eine zweite Gruppe, die den Protest in die Stadt auf den Wenzelsplatz leiten will, setzt sich durch.
Martin Šmíd, der angebliche Tote
Im Laubengang auf der Nationalstraße kommt der Zug zum Halten. Fest geschlossene Reihen von Bereitschaftspolizisten, von den Demonstranten Weißhelme genannt, warten schon auf die Studenten. Die Schlagstöcke fest im Griff machen sie ein Weiterkommen unmöglich. Der Protest lässt nicht nach, er wird laut. Die Staatsmacht schlägt zu mit derselben Brutalität, wie sie schon in den Monaten und Wochen vorgegangen ist.
Doch dann hallt plötzlich eine Frauenstimme durch die Menge: „Sie haben ihn umgebracht“. Tatsächlich: An der Spitze des Zuges ist trotz der frühen Dunkelheit ein lebloser Körper zu erkennen, der inzwischen schon von ein paar Polizisten umstellt wird. Plötzlich ist alles ganz anders. Trotz des ausbrechenden Chaos wird der Tote schnell identifiziert: Martin Šmíd, Student an der Mathematisch-Physikalischen Fakultät der Prager Karls-Universität. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht vom toten Studenten, nicht nur in Prag. Auch die bundesdeutsche „Tagesschau“ berichtet ein paar Stunden später davon, dass die Proteste ein Todesopfer gefordert haben.
„Auf einmal änderte sich die Atmosphäre“, erinnert sich Sascha Vondra, der damals mit in der Menge steckt. „Es war, als ob die ganze Angst von uns allen abgefallen wäre. Wir fürchteten uns nicht mehr. Nicht vor ihren Schlägen und auch nicht vor dem, was danach kommen könnte.“ Nein, sie hatten nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. „Plötzlich wussten wir einfach, das war es jetzt.“ Nach über vierzig Jahren hatte das kommunistische Regime die Kontrolle über die Straße verloren.
Während die Bereitschaftspolizisten weiter im Laubengang auf die Protestierenden einprügeln, wird der leblose Körper des Martin Šmíd rasch in einen Krankenwagen verfrachtet und weggebracht. Kaum jemandem fällt auf, dass es ein Fahrzeug der Armee ist, der den Studenten abtransportiert. Niemand bemerkt, dass die Ambulanz nicht ins nahe gelegene Krankenhaus am Karlsplatz fährt, sondern die Prager Altstadt umfährt, bis sie das Krankenhaus Na Františku ein paar Kilometer die Moldau aufwärts erreicht. Kaum ist der Krankenwagen im Innenhof des ehemaligen Franziskanerklosters zum Halten gekommen, springt der angeblich verstorbene Martin Šmíd von seiner Bahre und wird wieder zum lebendigen Ludvík Zifčák, dem 29-jährigen Berufssoldaten und Leutnant einer Eliteeinheit der tschechoslowakischen Staatssicherheit. Er hat seine Mission erfüllt.
„Es war eigentlich recht einfach, immerhin waren die Proteste ja von uns organisiert und gelenkt“, erzählt Zifčák dreißig Jahre später Am 17. November sei er ganz vorn im Protestzug mit dabei gewesen. „Unser Befehl war, niemanden auf den Wenzelsplatz zu lassen“, sagt Žifčák. Im Laubengang auf der Nationalstraße war Schluss. Hier warteten die Polizisten mit ihren Knüppeln. Hier befand sich die Front, an der Ludvík Žifčák alias Milan Růžička alias Martin Šmíd fallen sollte. „Auf Martin Šmíd kamen wir, weil Milan Růžička nicht sterben durfte. Der sollte ja weitermachen, wir ahnten ja nicht, dass alles so aus dem Ruder laufen würde“, ärgert sich Zifčák.
Ein Schuss, der nach hinten losging
Der eigentliche Plan der Staatssicherheit sah vor, die seit zwanzig Jahren an der Macht klebenden Betonkommunisten durch Reformer zu ersetzen. Doch der Schuss ging nach hinten los. Die tschechoslowakische Staatssicherheit hatte mit dem angeblichen Tod von Martin Šmíd den Geist der Freiheit entfacht, und den konnte sie nicht mehr kontrollieren. Als nur zwei Tage später bekannt wurde, dass der tote Student eine Erfindung der Staatssicherheit gewesen war, demonstrierten schon längst die Arbeiter der Prager Eisenbahnwerke an der Seite der Dissidenten und Studenten. Die samtene Revolution war nicht mehr aufzuhalten.
Nach dem Rücktritt der alten Führungsriege begann der neue kommunistische Regierungschef Marián Čalfa, mit Dissidenten wie Václav Havel und Sascha Vondra zu verhandeln. „Die Reformkommunisten von 1968 um Alexandr Dubček waren für den eine größere Gefahr als wir“, sagt Vondra heute. Für den Dissidenten am Rande der Gesellschaft führte die samtene Revolution zu einem bis dahin ungeahnten Lebensweg: Botschafter in der US-Hauptstadt Washington, Senator, Außenminister und Verteidigungsminister. Heute sitzt Sascha Vondra für die konservative ODS im Europäischen Parlament.
Für seine Rolle als Zündfunke der samtenen Revolution wurde Ludvík Zifčák zu 18 Monaten Haft verurteilt. „Man hat mir ja ein ganz anderes Urteil angeboten, wenn ich schweigen würde. Aber das fällt mir nicht ein“, behauptet er. In eine gewisse Erklärungsnot gerät Zifčák, wenn er über sein neues Leben in den Bergen spricht. Im Altvatergebirge, fernab von Prag, führt er heute ein kleines Hotel im schmucken Kurort Karlova Studánka. „Dass ich als Kommunist mal als Kapitalist arbeiten muss“, schimpft er. Aber in seiner Stimme schwingt ein Lachen mit. „Dass wir heute mehr Meinungsfreiheit haben, finde ich ja gut.“, sagt der einstige Stasi-Mann.
Auf die Prager Nationalstraße zum Gedenken am die Revolution vor dreißig Jahren zieht es Ludvík Zifčák deshalb aber nicht. Auch mag er nicht darüber nachdenken, dass seine Mission als toter Student Martin Šmíd nicht nur sein Leben geändert hat, sondern auch das von 15 Millionen Tschechoslowaken. In den Nachrichtensendungen des Fernsehens kann Ludvík Zifčák sehen, wie am Vorabend des 17. November wildfremde Menschen Blumen und Kerzen in den Laubengang bringen, in dem seine letzte Mission dem Regime die Kontrolle gekostet hat.
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