Sammelalbum mit G20-Krawallfotos: Guter Scherz oder Gewaltpropaganda?
Das autonome „Riotini“-Sammelalbum mit Fotos der G20-Krawalle erhitzt die Gemüter. Alles Nebenwidersprüche, weiß die taz.
Hemmungslos zelebriere die autonome Linken die Gewalt, beklagt der Hamburger CDU-Abgeordnete Dennis Gladiator im Hamburger Abendblatt: „Wer sich an der Verwüstung der Stadt, an Plünderungen, der enthemmten Gewalt gegen Menschen und an der Angst vieler Hamburger berauscht, zeigt seine kriminelle und antidemokratische Gesinnung.“
Das mag sein. Dem historischen Materialisten hingegen stößt die ebenso hemmungslose Affirmation des falschen Ganzen weit unangenehmer auf. Gedankenlos wird der Warentausch abgefeiert, wo die Chaoten ihre Klebebilder tauschen.
Generationen marxistischer Intelligenzija haben sich den Mund fusselig geredet, was die Obacht bezüglich der Marx’schen Analyse der Ware als Elementarform des Kapitalismus anbetrifft. „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“, erscheine als eine „ungeheure Warensammlung, lautet der erste Satz des Kapitals. Und kaum eine Marx-Einführung verzichtet heute auf eine Analyse der Satzbaus. Es beginnt mit dem Substantiv Reichtum, haben der Soziologe John Holloway und andere verdienstvoll herausgearbeitet, erst dann kommt die Ware. Und erst dann: die Sammlung.
So lange die Autonomen auf den dritten Aspekt zielen, können sie noch so emphatisch von der Freiheit schwafeln: Sie stecken doch bis zum Hals im gesamtgesellschaftlichen Verblendungszusammenhang, den zu überwinden sie doch vorgeblich anstreben.
Ironie der Geschichte
Das ist die bittere Ironie der Geschichte: Im Jahr 1840 hat Schleckerei-Magnat Franz Stollwerck mit seiner „Bilder-Chocolade“ (oder: „Photographie-Chocolade“) eine Sammelwut entfacht. Und es war eben dieses Jahr, als Marx seine Dissertation zur „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie“ begann.
Autonome, die diesen Zusammenhang als bloßen Zufall abtun, offenbaren damit lediglich ihre Unkenntnis der Schrift, arbeitet Marx doch gerade hier die dialektische Auffassung der Wirklichkeit anhand der Wechselverhältnisses der Kategorien Notwendigkeit und eben dem Zufall heraus. Die Hamburger Autonomen, sie hätten hellhörig werden müssen – hier, oder doch spätestens, als Panini 1961 sein erstes Fußballalbum ausgerechnet im Jahr des Mauerbaus auf den Markt brachte.
Der Wert des Sammelbilds unterscheidet sich zunächst nicht von jenem anderer Waren: Er entspricht der zu seiner Herstellung aufgewendeten durchschnittlichen menschlichen Arbeitskraft.
Scheinbar harmloser Bildertausch
Eben das verschleiern die Autonomen durch die Installation eines alternativen Marktes, welcher mit denen im Tausch gegen Geld erhaltenen Sammelbildern gespeist wird. Ihr Tauschwert ist selbstredend weder hier noch dort eine Eigenschaft des Bildes, sondern lediglich die Erscheinungsform des Wertes. In Gestalt des scheinbar harmlosen Bildertausches nun treiben sie die mystifizierte und mystifizierende Warenform des Geldes noch auf die Spitze, indem sie den Fetisch noch reproduzieren.
Je nach Füllstand des eigenen „Riotini“-Albums wertet der autonome Sammler, ob das Foto vom auf einen Bus gesprühten Slogan „For a world without cops“ nun einen brennenden Bengalo wert ist oder es eventuell noch eines Polizisten mit rosa Farbe bedarf. Dieses Praxis relativer Preise entspricht der methodologisch unreflektierten Formanalyse der Neoklassiker.
Warum überhaupt die Ware zirkulieren lassen? Weil der im Album angelegte Tausch nur in erster Instanz monetäre Schützenhilfe für die Inhaftierten leisten soll. Er erfolgt dann auch nicht in der von Marx beschriebenen Form G – W – G' (Geld gegen Ware gegen mehr Geld), sondern Ware gegen Ware gegen Ware.
Binnenautonome Zirkulation
Auf den in Marx’Worten „Überschuß über den ursprünglichen Wert“, den sogenannten „Mehrwehrt“, hat es aber auch die binnenautonome Zirkulation abgesehen: „Und bist du einmal niedergeschlagen und hoffnungslos“, so „Riotini“, „dann kannst du dich mit einem Blick ins Album an all das Erlebte erinnern und dir klarmachen, dass der Polizeistaat niemals stärker sein wird als das Verlangen nach Freiheit“. Aus den Eindrücken der Revolte wollen die Autonomen nun „Motivation und Inspiration“ ziehen, „und sie in kommende Kämpfe gegen die Herrschaft einfließen lassen“.
Wo also der bürgerlich-kapitalistische Warentausch letztlich auf die Transformation des Wertes in Kapital abzielt (zur Erinnerung: „Der ursprünglich vorgeschobene Wert erhält sich daher nicht nur in der Zirkulation, sondern in ihr verändert er seine Wertgröße, setzt einen Mehrwert zu oder verwertet sich. Und diese Bewegung verwandelt ihn in Kapital.“), dient die vermeintlich linke Tauscherei allein der Reproduktion revolutionärer Energien – in Gestalt folkloristischer Gewaltpoesie.
Verquere Idee von Kooperation
Die simple Erkenntnis, dass der Einzelne sich an Tütchen dumm und dusselig kaufen müsste, bis das Album voll wird, mündet schließlich in einer verqueren Idee von Kooperation: miteinander aufreißen, sortieren, tauschen, vollkleben.
Immerhin ein unfreiwilliges Verdienst bleibt „Riotini“ anzuerkennen: der Sichtbarmachung nämlich eines Hegel’schen Grundgesetzes der Dialektik. Es ist der Umschlag von Quantität in Qualität. Da sammeln die Autonomen ihre Bilder: 55, 56, 57 – um dann mit dem finalen 58. ein plötzlich volles Heft in den Händen zu halten. Weiterer Tausch ist seines Zweckes beraubt, hat sich erübrigt, die Zirkulation endet und die Totalität des Warentauschs ist aufgehoben. Zunächst für den Einzelnen, ja, doch das volle „Riotini“ verbleibt als Vorschein einer besseren Welt auch für die anderen erniedrigten, geknechteten, verlassenen und verächtlichen Sammler.
Hinweis in eigener Sache: Der Autor sucht dringend noch die Sammelbilder Nummer 7, 15 und 23
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste