Sally Haslanger über sozialen Wandel: „Denken und Handeln verändern“

Die Philosophin Sally Haslanger beschäftigt sich mit sozialen Veränderungen. Im Kampf gegen die Klimakrise brauche es Debatten über Ungerechtigkeit, sagt sie.

Eine Klimaaktivistin hebt während einer Blockade die Hände - Nachtstimmung, nur ihr Gesicht und die Hand sind angeleuchtet

Kli­ma­protest muss Menschen verständlich gemacht werden, sagt die Philosophin Sally Haslanger Foto: Yara Nardi/reuters

taz: Sally Haslanger, in der Gesellschaft grassieren struktureller Rassismus, ungerechte Klassen- und Genderverhältnisse – und zu allem Übel spitzt sich die Klimakrise zu. Als Philosophin beschäftigen Sie sich mit all diesen Problemen und ihren Zusammenhängen. Warum rufen Sie nicht zur Revolution auf?

Sally Haslanger: Ich bin nicht wirklich sicher, wie ein revolutionärer Wandel heute aussehen würde. Und ich denke, es wäre schwierig, viele Leute wirklich mit an Bord zu bekommen, wenn diesem großen Wandel nicht viele inkrementelle Veränderungen vorausgehen würden. Also viele kleinteilige Schritte, die aufeinander aufbauen. So als würden wir am System sägen, um es zu destabilisieren, bis es irgendwann fällt. Das fühlt sich für mich aber nicht revolutionär im eigentlichen Sinn an, sondern eher wie ein stetiger Prozess.

Momentan scheint dieses System noch relativ stabil zu sein. Wo sehen Sie Ansatzpunkte für solche Veränderungen?

Ein gutes Beispiel ist die LGBTQ-Bewegung der vergangenen Jahrzehnte. Sie war sehr machtvoll und hat es auf brillante Weise geschafft, unsere Normen, unsere Sprache und unser Denken über Hochzeit, Sexualität, Geschlecht und Gender zu verändern. „Nicht-binär“ zum Beispiel: Vor wenigen Jahren war das kein Wort, das irgendwer in der breiteren Gesellschaft genutzt hat. Dadurch gab es eine Lücke in unserem Denken, die es Menschen schwer gemacht hat, bestimmte Dinge über ihre Körper und ihre Begehren überhaupt nur zu wissen. Die Bewegung hat es geschafft, diese Lücke zu schließen.

Sie ist Professorin für Philosophie und Women’s and Gender Studies am Massachusetts Institute for Technology. 2021 ist ihr erstes Buch in deutscher Sprache mit dem Titel „Der Wirklichkeit widerstehen – Soziale Konstruktion und Sozialkritik“ bei Suhrkamp erschienen.

Manche Kri­ti­ke­r*in­nen nennen das Identitätspolitik und sagen, das wären nur kulturelle Veränderungen, die materiell nichts brächten.

Das ist nicht alles nur in unseren Köpfen. Das ist auch sehr materiell. Denken wir ans Heiraten. Wenn Menschen heiraten, haben sie oft rechtliche und ökonomische Vorteile. Wenn nun die kulturelle Offenheit, die die Bewegung kreiert hat, dazu führt, dass Menschen einander unabhängig von ihrem Gender heiraten können, hat das einen großen materiellen Einfluss auf ihre Lebensbedingungen.

Kulturelle Veränderungen als Hebel für materielle Verbesserungen also?

Ja, richtig. Und das funktioniert auch andersherum. In der Klimakrise zum Beispiel. Sie verändert unsere Lebensbedingungen sehr materiell. Sie beeinflusst die elementaren Möglichkeiten und Risiken, die Menschen in ihren Leben haben. Aber sie birgt auch das Potential, die Gesellschaft sehr stark zu verändern. Wenn wir wegen des Klimas streiken oder eine Straße blockieren, sind das wichtige materielle Eingriffe, die im Kleinen eine kulturelle Wirkung entfalten. Wir können darüber mit Menschen interagieren, ohne sie direkt überzeugen zu müssen. Sie kommen dann kaum drum herum, sich mit unseren Themen auseinandersetzen. Möglicherweise sehen sie dann: „Oh, hier gibt es Ungerechtigkeiten. Dort gibt es Armut. Und es gibt Menschen, die machen etwas dagegen.“ Das kann ihr Denken und Handeln verändern.

In 2019 hat die Klimagerechtigkeitsbewegung allein in Deutschland mehr als eine Million Menschen auf die Straßen gebracht. Seit Jahren gibt es regelmäßigen Protest. Die großen politischen Veränderungen blieben bisher aus. Im Gegenteil: Gerade weht erheblicher öffentlicher Gegenwind und Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen werden vermehrt kriminalisiert. Wie erklären Sie das?

Ich denke, wenn politische Veränderungen den Menschen zu weit und zu schnell gehen, fangen sie an, sich dagegen zu wehren. Großer Wandel bedeutet für viele den Verlust von Orientierung und Handlungsfähigkeit. Sie haben ihr Leben lang gelernt, welches Verhalten normal und richtig ist, was wertvoll ist und was nicht. Das aufzugeben, kann Angst machen. Für meine Tochter zum Beispiel war es lange vollkommen normal, Wasser aus Plastikflaschen zu trinken. Als ich ihr zum ersten Mal gesagt habe: „Das ist nicht gut für die Umwelt und damit unterstützt du einen Großkonzern“, ging das völlig an ihr vorbei. Es hat viel Überzeugungsarbeit gebraucht, bis sie das sehen konnte. Und das ist auch gesellschaftlich notwendig. Große Veränderungen brauchen eine starke gesellschaftliche Basis, die sie trägt. Diese Basis zu schaffen, bedeutet Überzeugungs- und auch Organisierungsarbeit. Wir müssen mit den Menschen reden, ihnen bewusst machen, was das Problem für sie persönlich bedeutet und sie in die Lösungssuche miteinbeziehen. Das ist mühsam, manche Gespräche sind kompliziert und manche wollen auch gar nicht reden. Aber wir sollten uns die Mühe machen. Darüber können wir verändern, was als normal, als richtig und erstrebenswert gilt. Darauf kann politischer Wandel dann aufbauen.

Mit allen zu reden, ist auch organisatorisch schwierig. Besonders in der Klimadebatte drohen Lösungen deshalb leicht zu eng gedacht zu werden. Wie lässt sich das ändern?

Wir sollten besser darin werden zu verstehen, wie die Klimakrise und andere Ungerechtigkeiten zusammenhängen. Zum Beispiel, dass Frauen in Zeiten von Katastrophen besonders stark belastet sind durch Sorgearbeit. Und wir sollten darauf achten, dass keine Veränderungen auf Kosten von Gruppen geschehen, die gesellschaftlich besonders vulnerabel sind: Menschen im Globalen Süden, Migrant*innen, Menschen der Ar­bei­te­r*in­nen­klas­se und BIPOCs, deren Welten durch den globalen Kapitalismus und Kolonialismus zerstört wurden. Um das sicherzustellen, ist Community Building wichtig. Also der Aufbau von Strukturen gegenseitiger Hilfe auf Nachbarschaftsebene, angelehnt beispielsweise an das großartige Konzept „Mutual Aid“ von Dean Spade. Darüber hinaus sollten wir versuchen, Räume zu schaffen, in denen all diese unterschiedlichen Perspektiven Gehör finden und zusammenarbeiten können. Und weil es aus meiner Sicht keine Gruppe gibt, die komplett divers ist und alle Perspektiven vertreten kann, braucht es hierfür auch Bündnisarbeit. Die wiederum kann weiterreichende Effekte haben: Gruppen vernetzen sich miteinander, verbinden sich weiter mit anderen, die sich wieder weiter und weiter verbinden. So kann sich organisch ein großes, machtvolles Netzwerk entwickeln.

Solchen vielversprechenden Bemühungen scheinen oft ihrerseits machtvolle Personen und Institutionen entgegenzustehen und sie zu blockieren.

Die sollten infiltriert werden (lacht). Ich bin auch in einer relativ machtvollen Position und ich halte permanent dagegen. Das ist ein Weg. Aber natürlich hilft es auch, mit ihnen zu reden. Klar, ein Trump lässt sich nicht überzeugen. Aber es gibt viele Menschen in relativ machtvollen Positionen, also Politiker*innen, Anwält*innen, Unternehmer*innen, die unsere Anliegen teilen oder offen dafür sind. Mit denen müssen wir reden. Auf unterschiedlichen Ebenen müssen wir Netzwerke bilden und uns miteinander organisieren. Organisieren, organisieren, organisieren – um Schwung in die Sache zu bringen.

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