Saefkow-Bibliothek in Lichtenberg: Liebesgrüße aus Moskau
In Lichtenberg ist die russische Community engagierter als sonst wo in Berlin. Die Saefkow-Bibliothek etwa hat viel Russischsprachiges zu bieten - dank des Bürgerhaushalts.
Ein Führer durch die Eremitage steht neben einer Biografie von Nikolai Gogol. Beide Bücher kann man in der Anton-Saefkow-Bibliothek in Lichtenberg in russischer Sprache ausleihen. Victor A., ein Rentner aus dem Wedding, wühlt in den Regalen: Er findet medizinische Sachbücher, Biografien und Sportzeitschriften aus Russland. Der Senior ist wegen der russischsprachigen Bücherbestände durch die halbe Stadt nach Lichtenberg gefahren. "In der Nähe meiner Wohnung gibt es leider keine russischsprachigen Bücher in Bibliotheken", bedauert er. Hier ist er Stammgast.
4.000 russischsprachige Medien führt die Anton-Saefkow-Bibliothek, sie besitzt damit den größten Buchbestand in dieser Sprache in Berlin. Dass es das Angebot seit 2003 gibt, geht auf den Bürgerhaushalt zurück, eine Lichtenberger Spezialität. Über einen Teil des bezirklichen Budgets können die Bürger mitentscheiden. Lichtenberger Migranten haben sich Bibliotheksbestände in russischer und vietnamesischer Sprache in den Bibliotheken gewünscht. Und bekommen. Dass sich Migranten, also eine Minderheit, hier mit ihren Wünschen gegen Radwege und Spielplätze durchsetzen konnten, ist erstaunlich.
Unter den Zuwanderern in Lichtenberg stellen die mit russischer Muttersprache den größten Anteil: Hier leben rund 10.000 Russlanddeutsche und gut 3.000 weitere Menschen aus den GUS-Staaten, das ist nach nach Marzahn die zweitgrößte russischsprachige Community in Berlin. Viele der russischsprachigen Zuwanderer sind Akademiker, darunter Lehrer, Ärzte, Musiker und Ingenieure. "In Umfragen drücken vor allem die älteren unter ihnen aus, sich bei uns sehr wohlzufühlen", sagt Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (Linkspartei). Wichtigste Ausnahme: "Viele sind unzufrieden, dass ihre Berufs- und Hochschulabschlüsse in Deutschland nicht anerkannt sind und sie gering qualifizierte Jobs verrichten müssen."
Elvira Ullmann, die russlanddeutsche Bibliothekarin in der Saefkow-Bibliothek, hat Glück, dass sie in ihrem Beruf arbeiten darf. Sie betreut hier und in einer weiteren Lichtenberger Bücherei die russischsprachigen Buchbestände, kümmert sich um Neuankauf und berät Leser. "Die russischsprachigen Bücher haben sogar geringfügig höhere Ausleihfrequenzen als deutsche Bücher", sagt sie zufrieden. Sie weiß, was ihre Leser bevorzugen: Unter Frauen seien medizinische Sachbücher und Modezeitschriften sehr beliebt, unter Männern biografische Literatur. Die Leser kommen aus dem ganzen Berliner Stadtraum und aus Brandenburg, denn nirgends sonst gibt es vergleichbare Angebote.
Dominieren in den Westbezirken meist die türkischsprachigen Zuwanderer die migrantische Kultur und -wirtschaft, so sind es in Lichtenberg Russen und Vietnamesen. Von der Kita über Grundschule, Gesamtschule und Gymnasium bis hin zur Hochschule für Technik und Wirtschaft kann man in diesem Bezirk die russische Sprache erlernen. Die Angebote sind miteinander vernetzt. Im Ortsteil Karlshorst gibt es zudem eine von drei russisch-orthodoxen Kirchen der Stadt.
Gemeindepfarrer Vladimir Iwanow finanziert seine in einem Reihenhaus untergebrachte Kirche über Spenden und den Verkauf sakraler Gegenstände. Shanna P. aus Friedrichshain besucht jeden Sonntag die Kirche. Hier kommt die in Russland geborene Mutter von zwei Kindern zur Ruhe, hier hat sie einen großen Teil ihrer Freunde kennengelernt. "Im Urlaub habe ich schon Freunde in allen Teilen Russlands und Weißrusslands besucht. Das sind Leute, die einmal in Berlin studiert haben", sagt sie. "Ich habe sie in der Gemeinde kennengelernt." Shanna P. ist selbst vor 15 Jahren zum Studium nach Berlin gekommen, inzwischen aber mit einem polnischen Berliner verheiratet. Ihre Kinder bringt sie jeden Morgen nach Lichtenberg in die deutsch-russische Europaschule, die einzige Berlins.
Fast so wichtig wie die Schule ist ihr der "Stolitschniky" ("Hauptstädter"), Berlins einziger russischer Supermarkt. In der Landsberger Allee werden nicht nur Krimsekt, russischer Borschtsch und Buchweizen angeboten. Das Warenspektrum ist so vielfältig wie die Stadt selbst: Die Kartoffeln stammen aus Deutschland, das Brot aus Polen, der Schafskäse aus Bulgarien und die Sonnenblumenkerne aus der Ukraine. "60 Prozent unserer Kunden sind Deutsche", sagt Marktleiterin Elena Moskwina, die die Markthalle führt. Das sind vor allem ehemalige DDR-Bürger, die einige Waren aus Vorwendezeiten noch kennen und schätzen.
Ein regelrechter Hit in der Hitze sind die selbst eingelegten Gurken. Für die Kinder von Shanna P. ist der Imbissstand vor dem Supermarkt ein Muss. "Nirgendwo schmeckt ihnen der Schaschlyk so gut", sagt sie. Und sie selbst stöbert beim Einkauf auch in der Anzeigenecke, der Nachrichtenbörse des russischen Berlin: Vom Anwalt bis zum Bestatter findet man hier alles in russischer Sprache.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin