Sachbuch zu jüdischer Emigration: Zielpunkt Neue Welt
Eine Studie folgt jüdischen Migranten während der Zeit des Nationalsozialismus nach Uruguay. Ein Exil, dessen Geschichte eher unbekannt ist.
An der Schleusenbrücke, nur einen Steinwurf vom mondänen Hamburger Jungfernstieg entfernt, hängt die unscheinbare Gedenktafel für die Brüder Hirschfeld. Deren Modehaus war bis 1938 eine der feinen Adressen für Konfektionskleidung in Hamburg. Hier kaufte auch der Generalkonsul der Republik Uruguay, Señor Rivas, regelmäßig ein. Weniger für die eigene Frau als für seine Mätresse und auf Rechnung, wie in der Firmengeschichte zu lesen ist.
Als Fräulein Müller hat Rudolf Hirschfeld die Geliebte des Konsuls diskret bezeichnet und dem Fräulein Müller hat er genauso wie sein Bruder Otto sein Leben zu verdanken. Sie war es nämlich, die im November 1938 blitzschnell reagierte und Einreisevisa für zwei der drei Brüder Hirschfeld beschaffte und obendrein ein Schreiben des Konsulats an die Gestapo aufsetzen ließ. Aus dem ging hervor, dass die Brüder Hirschfeld zügig ausreisen müssten, weil die Papiere für Uruguay nur bis zum Jahresende gültig seien.
So konnten sich die beiden Brüder Hirschfeld gemeinsam mit ihren Frauen nach Uruguay retten. Die Nazis hatten nicht nur ein Auge auf das berühmte Modehaus geworfen, sondern trachteten der ganzen Familie nach dem Leben. In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Hochzeitsgesellschaft Rudolf Hirschfelds gestört, zahlreiche Gäste wurden ins Zuchthaus verfrachtet und mehrere Familienangehörige darunter auch Benno, der dritte der drei Brüder, ins KZ Sachsenhausen verschleppt.
Sonja Wegner: „Zuflucht in einem fremden Land. Exil in Uruguay 1933–45“. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2013, 376 Seiten, zahlreiche Abb., 22 Euro.
Für die Familie Hirschfeld und viele andere noch in Deutschland lebende Juden war die Reichspogromnacht das Ende aller Illusionen. Fortan war klar, dass ein Leben in Zurückgezogenheit im Deutschen Reich unmöglich war. Die einzige Option hieß Auswanderung, und dank Fräulein Müller gingen Rudolf und Otto Hirschfeld am 10. Dezember 1938 in Montevideo an Land.
Reibungslose Einreise
Uruguay ist das Land Lateinamerikas, welches in Relation zur Bevölkerung mehr jüdische Flüchtlinge aufnahm als jedes andere amerikanische Land. Fast 10.000 jüdische Emigranten landeten zwischen 1933 und 1945 in dem kleinen Agrarstaat.
Das geht aus den Passagierlisten der Schiffe hervor, die die Historikerin Sonja Wegner genauso ausgewertet hat wie die Gestapo-Akten aus dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf oder die jüdischen Gemeindeblätter in Montevideo. Hinzu kommen nicht weniger als 51 Interviews mit jüdischen Emigranten und deren Nachkommen in Montevideo, die Licht in das Dunkel der bisher weitgehend unbekannten Geschichte des jüdischen Exils in Uruguay bringen.
Uruguay wurde für die in Europa verfolgten deutschen und österreichischen Juden zur Ausreiseoption, weil schon ein Erste-Klasse-Ticket und 600 Peso Vorzeigegeld die reibungslose Einreise garantierten. Das war in den USA, Mexiko oder im benachbarten Paraguay ganz anders.
Da wurden jüdische Flüchtlinge teilweise zurückgeschickt, während Uruguays Konsuln in Europa immer wieder Visa aus humanitären Gründen auch lange nach Kriegsausbruch noch bewilligten. In Einzelfällen auch eigennützig, wie die Berliner Historikerin in ihrer lebendig geschriebenen Doktorarbeit „Zuflucht in einem fremden Land. Exil in Uruguay 1933–45“ nachweist.
Und auch die Startchancen in der Neuen Welt waren nicht schlecht. Kleine Pensionen und Restaurants entstanden, zahlreiche Handwerksbetriebe und auch eine ganze Reihe von Konfektionsgeschäften. Dabei fiel den Frauen die Anpassung an die Lebensumstände deutlich leichter als ihren oft aus prestigeträchtigen Positionen kommenden Männern.
Sie wurden oft zu den Schwungrädern des Neustarts und engagierten sich auch in den Organisationen der deutschsprachigen jüdischen Gemeinde Montevideos. Die existiert bis heute. Allerdings verblassen die Spuren der jüdischen Emigration mehr und mehr, so dass Wegners Dissertation genau zum richtigen Zeitpunkt erscheint. Sie hält einen bisher unbekannten Abschnitt der jüdischen Emigration fest und lässt dabei die letzten Zeitzeugen zu Wort kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden