Sachbuch zu Europa nach Zweitem Weltkrieg: Nach dem Bruch

Der Historiker Paul Betts hat das Buch „Ruin und Erneuerung“ veröffentlicht. Er beantwortet, wie in Europa nach 1945 wieder Frieden einkehren konnte.

Displaced Persons 1945 Foto: Gamma/Keystone/getty images

Der Name ­Auschwitz steht für den industriellen Massenmord, verübt von einem verbrecherischen Regime; ein einzigartiger Zivilisationsbruch, ein Tiefpunkt europäischer Geschichte. Das Konzept der Zivilisation war 1945 „beschädigt“, schreibt Paul Betts, Professor für Moderne Europäische Geschichte an der Universität Oxford.

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„Der Kontinent, nach eigener Auffassung seit Langem der weltweite Maßstab der Zivilisation, hatte seine Ansprüche in ihr barbarisches Gegenteil verkehrt. Die internationale Gemeinschaft sah sich verpflichtet, neue rechtliche Begriffe wie ‚Völkermord‘ und ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ zu formulieren, um den deutschen Untaten gerecht zu werden.“

Das Konzept der Zivilisation war „beschädigt“, aber nicht zerstört. Denn das Ende des NS-Regimes ermunterte Politiker und Intellektuelle, den zerrütteten Kontinent materiell und moralisch wiederzubeleben. Davon handelt Paul Betts Buch „Ruin und Erneuerung“, eine inspirierende, bereichernde Lektüre.

Der Autor liefert keine klassische Erzählung der europäischen Geschichte nach 1945, wie sie etwa Tony Judt, Ian Kershaw oder Konrad Jarausch vorgelegt haben. Sein Ausgangspunkt ist der vage definierte Begriff der Zivilisation, was ihm die Möglichkeit eröffnet, ganz unterschiedliche Aspekte wie Menschenrechte, Hilfsbereitschaft, Wohlstand oder Kolonialismus zu behandeln und eine originelle Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zu entwickeln.

Beispiellose Dimension

Das Jahr 1945 war ein Jahr fieberhafter Zerstörung, aber ebenso fieberhaften Wiederaufbaus, so Paul Betts. Neben die erschreckenden Aufnahmen aus den KZs drangen schon bald Bilder von zerstörten Städten, Flüchtlingstrecks oder hungernden Displaced Persons ins öffentliche Bewusstsein.

Aufnahmen von notleidenden Menschen, abgedruckt unter anderem in auflagenstarken US-amerikanischen Zeitschriften, verfehlten nicht ihre Wirkung und lösten eine ungewöhnliche Hilfs- und Spendenbereitschaft aus: „An die Stelle der Kriegsgegnerschaft trat eine neuartige Zivilisierungsmission, die von Fürsorge und Mitgefühl angetrieben war. Eine internationale Hilfeleistung in beispielloser Dimension wurde im Namen des Humanitarismus auf die Beine gestellt.“

Zivilisation versteht sich in diesem Sinn als Wohltätigkeit. Doch Paul Betts geht weiter. Er dehnt den Begriff auch auf Phänomene wie Wohlstand, Mode und Wohnkultur aus und verweist auf die mächtige US-amerikanische Konsumgüterindustrie seit den späten 1950er Jahren. Viele kriegsgeplagte Westeuropäer sahen in Badewannen und Kühlschränken einen Maßstab für zivilisatorischen Fortschritt.

Jugendmode und -getränke, Haushaltsgeräte, Jazz, Rock ’n’ Roll und Filmstars galten als Inbegriff der Zivilisation westlicher Prägung. Den Konsumgütern schreibt der Autor eine geradezu erlösende Kraft zu, um etwa in Deutschland einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen zu können.

Der Preis für den Wohlstand

Was Paul Betts allerdings ausblendet, ist der hohe Preis, den die Menschheit für Wohlstand und Konsum zahlt. Führt ungebremstes Wirtschaftswachstum nicht zu Umweltzerstörung, Klimawandel, Artensterben und Naturkatastrophen und untergräbt somit die Fundamente jeglicher Zivilisation?

Während die Bundesrepublik Deutschland sich auf Toleranz, Freiheit und Demokratie berief, um die Schrecken der Vergangenheit zu bannen, strapazierten die europäischen Kolonialmächte den Begriff der Zivilisation, um ihre imperiale Präsenz in Afrika oder Asien zu rechtfertigen.

Frankreich zum Beispiel sah sich als Vorhut der freien Welt und erklärte den Krieg gegen Algerien kurzerhand zu einer „Zivilisierungsmission“, zu einer „Polizeiaktion“ und „Befriedungsoperation“. Das heutige Russland ist nicht der erste Staat, der sich verschleiernder Bezeichnungen bedient, um das brutale Vorgehen in einem Krieg zu kaschieren.

Dass heute Putin den Überfall auf die Ukraine als „Befreiungsaktion“ inszeniert und als zivilisatorischen Akt gegen ein „faschistisches Terrorregime“ zu rechtfertigen versucht, zeigt, wie problematisch die Verwendung des Begriffs ist und wie verwundbar die Zivilisation selbst – auch im 21. Jahrhundert. Möglicherweise bleibt nur die Hoffnung auf eine neuerliche Wiedergeburt, wie sie Paul Betts in seiner beeindruckenden Darstellung für die Zeit nach 1945 beschrieben hat.

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