Sachbuch über Demokratie: Bürgerbeteiligung per Losverfahren
In einem von Klaus Töpfer herausgegegeben Buch plädiert der Regierungsberater Claus Leggewie für eine „Zukunftskammer“ parallel zum Bundestag.
Die Bundestagswahl ist der Beweis für das Funktionieren der Demokratie in Deutschland – immer noch. Und das, obwohl eine zunehmende Debatte darüber läuft, ob das parlamentarische System ergänzt werden muss. Wie könnte eine Bürgerbeteiligung aussehen, die diesen Namen verdient?
Klaus Töpfer, Exbundesumweltminister von der CDU, hat dazu jetzt ein Diskussionsbuch präsentiert: „Verändern durch Wissen – Chancen und Herausforderungen demokratischer Beteiligung von Stuttgart 21 bis zur Energiewende“.
Geschrieben haben darin unter anderem Stuttgart-21-Vermittler Heiner Geißler, Regierungsberater Claus Leggewie, Mitglied im Beirat für Globale Umweltveränderungen, und der ehemalige grüne Umweltsenator von Bremen, Reinhard Loske. Allesamt Leute, die in den vergangenen Jahrzehnten praktisch oder theoretisch mit Bürgerprotesten gegen Großprojekte zu tun hatten.
Klaus Töpfer / Dolores Volkert / Ulrich Mans (Hrsg.): „Verändern durch Wissen“. Oekom-Verlag, München 2013. 191 Seiten, 17,95 Euro
Die Startbahnen am Frankfurter Flughafen, das Atomendlager in Gorleben, der Neubau des Hauptbahnhofs in Stuttgart, die Trassen für die neuen Stromleitungen, die Norden und Süden des Landes verbinden sollen: Leggewie zieht aus den Erfahrungen mit diesen Projekten den Schluss, dass das parlamentarische System einer grundsätzlichen Ergänzung bedürfe. Er schlägt vor, eine neue „Zukunftskammer“ zu etablieren, die neben Bundestag und Bundesrat an der Gesetzgebung mitwirken solle.
Verbindlich vertreten sein
Warum? Leggewie analysiert einen Missstand, der vielen engagierten Bürgern auf die Nerven geht. Denn Planung heute sieht so aus: Bundeskanzlerin Merkel entscheidet, dass die Atomkraftwerke weg müssen, die Bundesnetzagentur berechnet, wie viele Nord-Süd-Stromleitungen man braucht, um den Windstrom vom Meer nach Süddeutschland zu leiten, die Bürger dürfen schließlich mitdiskutieren, wo die Trassen verlaufen. Doch die Sinnfragen bleiben ungestellt. Welche Energiewende wollen wir, brauchen wir Windkraftwerke auf dem Meer, brauchen wir neue Trassen?
So könnte es vorteilhaft sein, einen neuen, permanenten Bürgerbeteiligungsapparat einzurichten: Dort würden die großen Entscheidungen vordiskutiert, bevor die Regierung sie mal eben festzurrt. Die Zukunftskammer institutionalisiert Beteiligung als echte Mitwirkung, weit hinausgehend über die heutige akzeptanzbeschaffende Mithilfe engagierter Bürger bei der Exekution politischer Beschlüsse.
In dieser dritten Kammer müsste ein Querschnitt der Bevölkerung verbindlich vertreten sein. So ließen sich vielleicht zwei Probleme heutiger Partizipation entschärfen. Erstens: Ein paar Leute oder Bürgerinitiativen schreien am lautesten, behaupten, das Gemeinwohl zu repräsentieren, agieren in Wirklichkeit aber nur als besonders geschickte Vertreter ihres jeweiligen Partikularinteresses. Sie kapern das Verfahren.
Zweitens: Es gibt Bürgerbeteiligung, aber kaum ein Bürger geht hin. Dieses erstaunliche Phänomen kann man zur Zeit bei der Stromtrassenplanung beobachten. Das Verfahren, das sich die Bundesregierung ausgedacht hat, ist recht fortschrittlich. Doch die Betroffenen fehlen meistens bei den Versammlungen. Sie kommen wohl erst, wenn die Bagger vor ihren Häusern stehen.
Um diese Klippen zu umschiffen, macht Leggewie einen gewöhnungsbedürftigen Vorschlag: Lasst das Los entscheiden. Beispielsweise aus den Wählerlisten würden also Bürger ausgelost, die an der Zukunftskammer neben Wissenschaftlern und anderen Berufenen verbindlich teilnehmen müssten. Damit den Ausgelosten keine wirtschaftlichen Nachteile entstehen, sollen sie für ihren Zeitaufwand staatlicherseits entlohnt werden. Frage: Würde solch erzwungenes Engagement womöglich als repressiv verstanden werden und damit kontraproduktiv wirken?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands