Sachbuch „Der gute Deutsche“: Bislang das Beste
Nah am pragmatischen Machiavellismus: Josef Joffe untersucht die BRD zwischen Wiedergutmachung und Wiederbewaffnung.
Einst galt Die Zeit als Zentralorgan des deutschen Bildungsbürgertums. Das mag den heutigen Herausgeber und Kolumnisten Josef Joffe dazu verleitet haben, die Geschichte Deutschlands nach 1945 als einen Bildungsroman nach dem Muster von Goethes Wilhelm Meister zu erzählen: Jugendjahre, Wanderjahre, Meisterjahre.
Die Jugendjahre sollen die Integration Deutschlands in den Westen bezeichnen, die Wanderjahre beginnen mit dem Auschwitzprozess 1964, der Ostpolitik, dem Terror der RAF und der Nachrüstungsdebatte, die Meisterjahre mit der Wiedervereinigung 1990. Die Prüfungen der ersten beiden Etappen auf dem Wege des „Wiedergutwerdens“ hat die Bundesrepublik nach Joffes Urteil bewundernswert gemeistert.
An der Reife Deutschlands hat Joffe seine Zweifel. Sein Buch „Der gute Deutsche“ liest sich als Polemik gegen Deutschland als „moralische Supermacht“. Joffe möchte als Erziehungsziel Deutschland einen „republikanischen Patriotismus“ verordnen.
Gesellschaften durchleben keine Kindheit, Jugend und Reife. Deutschland erlebte 1945 auch keine Stunde null; es war weder Waisen- noch wurde es Wunderkind. Die deutsche Gesellschaft nach 1945 wurde regiert von Menschen, die ihre Erfahrungen in Weimarer Republik und Nazizeit gemacht hatten. Adenauer und Brandt machten nach 1945 keine Kinder- und Jugendzeit durch. Weimarer Republik und Nationalsozialismus sind konstitutive Erfahrungsbestandteile von Nachkriegsdeutschland, nicht etwa tote Buchstaben in historischen Lehrbüchern. Westdeutschland nach 1945 sah ganz alt aus – gezeichnet vom verlorenen Krieg, international diskreditiert durch Massenmord und Kriegsverbrechen.
Josef Joffe: „Der gute Deutsche. Die Karriere einer moralischen Supermacht“. C. Bertelsmann, München 2018, 256 S., 20 Euro
Joffe widerspricht sich selbst: Welcher Jugendliche bedarf schon einer Resozialisierung? Zudem kommt Joffes deutscher Bildungsroman ganz ohne die DDR aus, als ob ohne sie das vereinigte Deutschland nach 1990 mit seinen ethnozentrischen Hitzewallungen zu verstehen wäre. Deutschland zwischen 1945 und 1990 lässt sich eben nicht als Bildungsgeschichte eines Individuums, sondern nur als Entwicklungsprozess zweier unterschiedlicher Gesellschaften begreifen.
Joffe braucht seine lebensgeschichtliche Konstruktion, um Deutschlands Großwerden als Geschichte einer Läuterung darzustellen; denn das Deutschland von heute gilt ihm als das beste Deutschland, das es je gab. Ausgehend von dem moralischen Bankrott des Dritten Reiches erlebte Deutschland unter Adenauer eine Integration in die westliche Welt.
Seine Entscheidungen für „Wiedergutmachung“ und „Wiederbewaffnung“, die Adenauer gegen erhebliche Widerstände durchsetzte, bewundert Joffe als kluge Realpolitik, die den Weg zur Wiedergewinnung der Souveränität im Gewand moralischer Läuterung anzeigt: „Wiedergutmachung am Judentum“, wie Adenauer zu sagen pflegte, und Eintritt in die Nato unter US-amerikanischer Hegemonie, um die BRD als Partner des freien Westens zu etablieren.
Ressentiment, nicht Praxis?
Auch die spätere Ostpolitik kann Joffe als Realpolitik im Gewande einer Idealpolitik verstehen: Deutschland als Vorreiter der Entspannung, der ein zuverlässiger Bündnispartner bleibt. Hätte es diese moralische Läuterung nicht gegeben, wäre nach Joffe die „Wiedervereinigung“ Deutschlands von seinen Nachbarn nicht so leicht akzeptiert worden. Nun aber sei die altruistische Verkleidung nationaler Interessen nicht mehr nötig, Deutschland müsse sich endlich seiner machtpolitischen Verantwortung in der Mitte Europas bewusst werden. Es schwebt ihm eine Art pragmatischer Machiavellismus vor.
Das erwachsene Deutschland nach 1989 aber gebärdet sich nach Joffe wie eine „moralische Supermacht“, die sich die Finger nicht schmutzig machen will. Als Beweis dienen ihm zwei Kapitel über „Antiamerikanismus“ und „Antisemitismus“. Das Wesentliche an beiden scheußlichen Praktiken scheint ihm die moralische Denunziation der Macht im Dienste der „Wiedergutwerdung der Deutschen“ zu sein – ein Ausdruck, den Joffe von Eike Geisel übernommen hat (s. „Die Wiedergutwerdung der Deutschen“, Edition Tiamat 2015).
Kein Name ist so belastet wie dieser. Wer heißt heute noch „Adolf“? Wir haben vier Männer unterschiedlichen Alters gefragt, wie dieser Vorname ihr Leben prägt – in der taz am wochenende vom 20./21. Oktober. Außerdem: Ein Regisseur will mit Theater heilen und probiert das jetzt in Sachsen. Eine Pomologin erklärt, wie sich alte und neue Apfelsorten unterscheiden. Und Neneh Cherry spricht über ihr neues Album. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Geisel stellte vor 20 Jahren die deutsche Politik der „Vergangenheitsbewältigung“ radikal in Frage, während Joffe sie inzwischen für überflüssig hält. Antiamerikanismus und Antisemitismus erscheinen bei Joffe nur noch als Ressentiments und nicht als bedrohliche antidemokratische Praktiken. Bei aller Abgeklärtheit ist Joffe aber der weltweite Aufstieg des Populismus entgangen, der stärker noch als Deutschland das Herzland der westlichen Demokratie, die USA, erfasst hat und alle Schulweisheit infrage stellt.
Die Argumentationen Joffes stehen vorrangig im Dienst der polemischen Absicht, nicht der Erkenntnis. Die Lust am Bonmot dominiert. Ärgerlich wirkt der flapsige Ton, in dem ernste Probleme verhandelt werden. Vertraulich ist von „Wilhelm“ und „Adolf“ die Rede. Psychoanalyse schrumpft zur Küchenpsychologie. „Unser aller Onkel Sigmund lehrt“, heißt es bei Joffe. Englische und französische Gemeinplätze pflastern seinen Text. Sie sollen Weltläufigkeit demonstrieren.
Wissenschaftliche Kategorien wie „sekundärer Antisemitismus“ werden wie Schlagwörter benutzt, ohne entwickelt zu werden. Viele Zitate kommen aus zweiter Hand, manche sind schlichtweg nur zugeschrieben, werden aber als wörtliche ausgegeben. Diese Art zu schreiben erweist der politischen Bildung einen Bärendienst.
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