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Sachbuch „Abundance“ aus den USAMehr, nur wie und wovon?

In ihrem umstrittenen Buch „Abundance“ plädieren die US-Journalisten Ezra Klein und Derek Thompson für mehr Investitionen und weniger Regulierung.

Not in San Francisco: 50 Prozent der US-Obdachlosen leben im liberal regierten Kalifornien Foto: Robert Gumpert/redux/laif

Im linken und liberalen Amerika ist ein erbitterter Streit ausgebrochen. Von einem Bürgerkrieg unter US-demokratischen Po­li­ti­ke­r:in­nen und Politiknerds sprach gar Ende Mai die Zeitschrift The Atlantic. Diesmal geht es nicht um Gaza, Migration oder Polizeigewalt, sondern um etwas erfrischend Dröges: Richtlinien, Verordnungen und Gesetze.

Im Zentrum dieses Konflikts, der derzeit in Zeitungsartikeln, Substacks und Tweets ausgefochten wird, stehen die Journalisten Ezra Klein von der New York Times und Derek Thompson von The Atlantic mit ihrem neuen Sachbuch „Abundance“ (Überfluss). Darin kritisieren sie die Ineffektivität nationaler und bundesstaatlicher Regierungen und machen dafür auch eine linke Obsession mit Überregulierung verantwortlich. Damit treffen sie offenbar einen Nerv.

Was Klein und Thompson wollen, ist klassisch links: ein gutes Leben für möglichst viele. Ihr Konzept des Überflusses wollen sie verstanden wissen als Überwindung des ewigen Knappheits- und Spardiktats. Entgegen der in liberalen Kreisen populären Degrowth-Theorien oder der Austeritätspolitik der Republikaner wollen sie die Logik der Knappheit durch staatliches Handeln überwinden, durch Wachstum und Innovation: „Mehr bauen und mehr von dem erfinden, was wir brauchen.“ Nicht weniger, sondern mehr soll es geben, nicht Konsumprodukte, sondern bezahlbare Lebensgrundlagen im Sinn eines John Maynard Keynes – günstiger Wohnraum, klimaneutrale Energie, Gesundheitsversorgung, eine funktionierende Infrastruktur, Digitalisierung.

Probleme nicht auf andere schieben

Die US-amerikanische Realität sieht anders aus. Die Ungleichheit wächst, Extremwetter bedrohen regelmäßig Hunderttausende Existenzen, fossile Rohstoffe sind weiterhin die primäre Energiequelle, Infrastrukturprojekte stocken, und die Innovationsfähigkeit sinkt – und zu alldem kommt die disruptive und menschenfeindliche Agenda von Donald Trump. Doch wer die derzeitigen Probleme auf die anderen schiebe, mache es sich zu einfach, finden Klein und Thompson.

Bereits vor Trump sank die Zufriedenheit mit Regierungen in den USA kontinuierlich, ebenso das Vertrauen in politische Institutionen. Alles dauert länger als früher, ist teurer, komplizierter. Was muss also liberale Politik besser machen? Insbesondere Klein, der als Host des Podcasts „The Ezra Klein Show“ von Liberalen und Progressiven weltweit als Public Intellectual gefeiert wird, ist für seine gewissenhaft recherchierten wie unbequemen Meinungen bekannt. Und so gehen die Autoren nicht im republikanischen Mittleren Westen auf die Suche, sondern widmen sich ihrem eigenen Milieu und untersuchen in detaillierten Fallstudien, woran auch die Regierungen an den politisch liberal eingestellten Küsten der USA immer öfter scheitern.

Die Obdachlosigkeit in Kalifornien beispielsweise: Der bevölkerungsreichste Bundesstaat, seit Langem demokratisch regiert, stellt 12 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber 30 Prozent der wohnungslosen Bevölkerung und 50 Prozent der obdachlosen Bevölkerung. Für die Autoren ein Zeichen von Lawn-Sign-Liberalismus: „In denselben progressiven Gegenden, in denen Hausbesitzer in ihren Vorgarten Schilder wie,Kindness Is Everything' stecken, lässt sich kein bezahlbarer Wohnraum finden – und die Obdachlosigkeit ist endemisch“, schreiben sie.

Wo in den 50er Jahren innerhalb von drei Jahren Zehntausende Häuser und ganze Orte neu gebaut wurden, verhindern heute vor allem von An­woh­ne­r:in­nen forcierte Flächennutzungsregeln („Zoning Rules“) mehr Wohnungsbau. „Jede wachsende Gemeinschaft, die sich selbst so mag, wie sie ist“, so die Autoren, „steht einem Problem gegenüber.“ Dieser ebenso konservative wie liberale NIMBY­ismus („Not in my Backyard“) – die Idee, dass Veränderung gerne passieren darf, aber bitte nicht hier – so Klein und Thompson, sei ein strukturelles Problem.

Nicht weniger, sondern mehr soll es geben, vor allem bezahlbare Lebensgrund­lagen

Ein anderes Negativbeispiel aus Kalifornien: Eine Hochgeschwindigkeitsbahntrasse. 1982 erstmals angekündigt, vergingen 14 Jahre, bis die Planung begann und weitere 13 Jahre, bis die Finanzierung gesichert war. Weitere 16 Jahre später wurde das Projekt auf den Bau eines kleinen Teilabschnitts geschrumpft, die Kosten belaufen sich auf rund 35 Milliarden US-Dollar. Was die Autoren als Hauptproblem ausmachen, ist nicht der Bauprozess selbst, sondern dessen politischer Kontext. Die Fülle an Regularien, Bürokratie, Schlichtungsverfahren und Gerichtsverhandlungen nehme dem Projekt erst die gesellschaftliche Zustimmung und dann auch den politischen Willen zur Fertigstellung.

Viele Lösungen von gestern seien die Probleme von heute geworden, so die Diagnose in „Abun­dance“. Die Klagewellen von Umwelt- und Bürgerrechtsorganisationen seit den 1970er Jahren seien zwar die adäquate Antwort auf die Zeit des New Deal gewesen, in der Nachhaltigkeit vernachlässigt wurde. Heute sorge dieser „Legalismus“ allerdings für Stillstand. Bau- und Infrastrukturprojekte würden immer teurer, weil Dokumentations- und Antragspflichten immer mehr Ressourcen und Geld binden. Das gleiche Muster zeige sich in der Wissenschaft und Medizinforschung, in der Verwaltungsdigitalisierung oder beim Ausbau erneuerbarer Energien.

Klein und Thompson zeichnen die Verknöcherung eines – eigentlich erfolgreichen, und deshalb alternden – demokratischen Systems nach. Über viele Jahre wurde Vertrauen in die politische Exekutive durch Gesetze, Abstimmungsprozesse und Regeln ersetzt, sodass das System als Ganzes immer immobiler wurde. Das müsse sich ändern. Statt Konsenszwang müssten pragmatische Entscheidungen getroffen werden – um angesichts der drohenden Klimakatastrophe überhaupt irgendetwas zu retten. Statt Klimawandel-Leugnung gebe es bei Progressiven aber oft einen „tradeoff denial“, die Leugnung, dass es (unperfekte) Kompromisse braucht.

Pragmatismus – nur wo?

Als positive Gegenbeispiele ziehen Klein und Thompson Krisenprojekte heran, deren Dringlichkeit Pragmatismus erlaubt: Das Raumfahrtprojekt Apollo etwa oder die Operation Warp Speed, mit dem die US-Regierung nach dem Ausbruch der Coronapandemie nur 11 Monate statt üblicherweise Jahrzehnte brauchte, um eine sichere und wirksame Impfung zu entwickeln und zu verteilen. Um Krisen wirklich effektiv zu begegnen, so eine der Hauptthesen des Buches, brauche es eine andere politische Kultur, eine, in der Regierungen mit so viel Vertrauen ausgestattet sind, dass sie tatsächlich handeln können.

Doch genau hier wird es haarig. Denn während Klein und Thompson zwar die komplexen politischen Probleme präzise analysieren, bleiben ihre Forderungen an der schwierigsten Stelle hängen. Welche Regeln und Teilhabeprozesse dürfen zukünftig also vernachlässigt werden – das Umweltgutachten, die Barrierefreiheit oder die Gleichstellungsanforderungen? Worauf davon wollen, worauf können wir verzichten? Und wer entscheidet darüber?

Vor einer Antwort ducken sich die Autoren weg und bleiben unkonkret bei der Frage, welche Prioritäten nun gesetzt werden sollten. Das, so versichern sich in ihrem Fazit, wollen sie bewusst nicht tun. Vielmehr soll ihr Beitrag eine Fokussierung auf ein neues, altes politisches Ziel – den Überfluss – anregen, inklusive Benennung potenzieller Hürden auf dem Weg dorthin. Die Problemanalyse mit konkreten Werten und Zielen zu füllen, wird dem öffentlichen Diskurs überlassen.

Traumatisierte Demokraten

Dieser ist in vollem Gange. Ursprünglich sollte Kleins und Thompsons Buch im Sommer 2024 erscheinen, in der heißen Phase des US-Wahlkampfes. Dafür spricht auch die Struktur von „Abundance“, dessen Kapitel wie eine Schritt-für-Schritt-Anleitung aufgebaut sind: Wachsen, Bauen, Regieren, Erfinden, Einsetzen. Die Veröffentlichung verspätete sich aber bis in den März 2025, und so wissen wir nun, dass nicht Kamala Harris im Weißen Haus sitzt, sondern wieder einmal Donald Trump, während die Demokraten auch im Kongress die Minderheit stellen.

„Abundance“ trifft also auf eine traumatisierte und orientierungslose Demokratische Partei. Auf der einen Seite klammern sich demokratische Führungspersönlichkeiten, unter ihnen die Gouverneure Kathy Hochul, Tim Walz oder Wes Moore, an die Vision wie an einen Rettungsring. Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom nannte „Abun­dance“ „das wichtigste Buch für Demokraten“, und die Parteiführung lädt Klein zu Vorträgen ein. Auf der anderen Seite stehen jene, die darin eine libertäre „Anti-Government“-Ideologie unter linken Vorzeichen sehen und damit einen Frontalangriff auf die in der demokratischen Partei stark verankerten Grassroot-Bewegungen.

Wer sich mit Klein und Thompson beschäftigt hat, weiß, dass sich die beiden bisher nicht verdächtig gemacht haben, autoritär, technolibertär oder „anti-government“ eingestellt zu sein. Und doch klingen Teile des Buches – Bürokratieabbau, Technologieoffenheit, Deregulierung – nach der Agenda des Silicon-Valley-Libertarismus. Die Autoren verlangen ihren Le­se­r:in­nen ab, das auszuhalten: „Das Streben nach Wohlstand bedeutet, institutionelle Erneuerung anzustreben. Eine der gefährlichsten politischen Pathologien ist die Tendenz, alles zu verteidigen, was die Feinde angreifen.“

Ein ungutes Gefühl macht sich nach der Lektüre trotzdem unweigerlich breit. Denn nicht nur für Demokraten kann „Abun­dance“ ein Denkanstoß sein, sondern auch für den Machtapparat um Donald Trump. In vielerlei Hinsicht ist dieser mit seiner forschen Rücksichtslosigkeit heute bereits sehr viel besser darin, die lähmenden Auswüchse der institutionellen Demokratie anzugehen. Nur sind seine Ziele ganz und gar andere.

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1 Kommentar

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  • "Eine der gefährlichsten politischen Pathologien ist die Tendenz, alles zu verteidigen, was die Feinde angreifen."

    Absolut richtig ! Das kann man gar nicht oft genug unterstreichen!