SPEKULATIONEN ÜBER URTEILE DES VERFASSUNGSGERICHTS SIND HEIKEL: Es geht nicht nur um Zuwanderung
Ein gewichtiger Unterschied trennt Spekulationen über Stimmenmehrheiten bei Entscheidungen eines Verfassungsgerichts und Nachrichten über Mehrheitsentscheidungen vor Verkündigung eines Urteils. Spekulationen sind legitim. In den USA ernährt sich eine ganze Zunft von Analytikern von Informationen über politische Präferenzen der Richter, wobei das Risiko stets bei den Spekulierenden liegt. Schließlich hat mehr als einmal ein Richter tückischerweise entgegen seinem politischen Profil gestimmt. Die Verbreitung von Nachrichten über angebliche Abstimmungsergebnisse hingegen ist heikel – schon deshalb, weil Verfassungsrichter bis zur Ausfertigung und Verkündung eines Urteils ihre Meinung ändern können. Für ein solches Verhalten von Medien hat das US-Recht einen treffenden Ausdruck parat: „Contempt of court“, zu deutsch „Verachtung des Gerichts“.
Die Sprecherin des Bundesverfassungsgerichts hat die Situation nicht verbessert, als sie sagte, bei der Nachricht, das Gericht werde das Zuwanderungsgesetz kippen, handle es sich um eine „absolute Fehlmeldung“. Hätte sie „Falschmeldung“ gesagt, wäre die Sache klar gewesen. Aber was heißt „fehl“ – im Grundsatz richtig, aber fehlerhaft, fehl am Platze? Die Ausdrucksweise steht für die Verlegenheit angesichts eines Informationsunfalls. Eines Unfalls größten Ausmaßes, denn das Gerücht vom Karlsruher Mehrheitsentscheid ist wie kein anderes geeignet, die augenblickliche Wirrnis im rot-grünen Lager noch zu potenzieren.
In der zu entscheidenden Rechtsfrage, was „einheitliche Stimmabgabe“ heißt und ob Brandenburgs Ministerpräsident diese „Einheitlichkeit“ durch sein Votum hergestellt hat, sind die Lehrmeinungen gespalten – mit einem deutlichen Übergewicht der Staatsrechtslehrer zugunsten der klagenden CDU-Länder. Auch die Gegenmeinung kann Gründe auffahren, vor allem, dass der Bundesrat ein Organ der Länderexekutive ist und kein Parlament, wo jeder Landesvertreter nach Gusto abstimmen kann. Hinter dem aktuellen Streit verbirgt sich ein zweiter. Ob nämlich der Bundesrat in seiner gegenwärtigen Funktionsweise noch ein taugliches Instrument der bundesstaatlichen Ordnung darstellt. Darüber zu debattieren lohnt sich weit mehr als vorzeitiges Kolportieren von Abstimmungsergebnissen. CHRISTIAN SEMLER
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