SPD-Parteitag in Wiesbaden: Nun abstimmen, später debattieren
Die SPD will sich erneuern, alle Hoffnungen richten sich auf die designierte Vorsitzende Andrea Nahles. Alle? Nein. Es wird auch Verdruss geben.
Die Neue, Simone Lange, Oberbürgermeisterin von Flensburg, ist ihre Gegenkandidatin. Sie wirkt frisch, links, unverbraucht, nicht so stark von der Arbeit in Apparaten geprägt wie Nahles. Aber Chancen hat sie wohl nicht.
Das liegt auch am Timing. Carsten Schneider, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, hält die Wahl von Nahles für „den Abschluss eines Prozesses“ – nämlich des wirren Wegs vom donnernd Nein zum erst zaghaften, dann selbstverständlichen Ja zur Regierungsbeteiligung. Diesen Weg hat wesentlich Nahles gebahnt. Jetzt, nach Schulz-Hype und seinem Scheitern, Streit und Basisvotum zur Groko stehen erst mal alle Signale auf innerparteilichen Frieden. Oder fast alle.
Denn es fühlt sich anders an als 2013, als die Basis ebenfalls den Eintritt in die Regierung durchwinkte. Damals rasteten sofort die normalen SPD-Reflexe ein. Regieren ist wichtig, die Fraktion nicht so sehr, die Partei darf beim Parteitag die Hand heben. Jetzt ist die Stimmung etwas anders.
Die SPD und der Paragraf 219a
Yannick Haan, SPD-Ortsvorsitzender in Berlin-Mitte und Netzpolitiker, glaubt, dass es „noch immer aufgestaute Wut über die Große Koalition gibt“, die auch in Wiesbaden zum Vorschein kommen kann. 2013 hatte die SPD noch die Illusion, dass solide Regierungsarbeit reicht, um auch bei Wahlen erfolgreich zu sein. „Jetzt“, so Haan, „fragen viele, was wir falsch gemacht haben und wie sich verhindern lässt, dass wir nächstes Mal bei 15 Prozent landen.“ Das Gefühl sich auf einem sinkenden Boot einzurichten, ist noch immer da.
Die Antwort der SPD-Spitze auf dieses Unbehagen lautet: Nahles. Die soll als Partei- und Fraktionschefin ein alternatives Machtzentrum zu der Riege der SPD-MinisterInnen bilden, die schnell im tagesaktuellen Regierungsmodus sind. Allerdings ist bislang nicht zu erkennen, wo Nahles einen Deut von der Regierungslinie abweicht oder weitergehende Ziele formuliert.
Yannick Haan, SPD-Politiker
Dass die SPD, angetrieben von Partei und Fraktion, in der Regierung eigenständiger auftritt als in der letzten Koalition, dafür gibt es bislang kein Indiz. Im Gegenteil: Beim Paragrafen 219a übte sich Nahles in vorauseilender Konfliktvermeidung. Wenn es beim Parteitag ein Ventil für den Verdruss gibt, dürfte es die Kritik an Nahles’ Zickzackkurs beim 219a werden.
Debattencamp geplant
Das Zauberwort in der Partei lautet derzeit Erneuerung. Die SPD soll eine nach außen offene, nach innen durch und durch demokratische Organisation werden. Das jedenfalls proklamiert Generalsekretär Lars Klingbeil. Ende des Jahres soll es ein Debattencamp geben, das Ideen der Basis sammelt, hat Klingbeil vergangene Woche vorgeschlagen. Die SPD-Spitze soll diese Ideen im kommenden Jahr bündeln und zu einem Zukunftsprogramm verdichten.
Zudem will Klingbeil digitale Beteiligungsformate populär machen – ein anspruchvolles Vorhaben bei einer weitgehend dezentral organisierten Partei mit 450.000 Mitgliedern und einem Durchschnittsalter von 60 Jahren. Ob dieser Erneuerungsversuch erfolgreicher sein wird als die bisherigen, wird man im nächsten Jahr beurteilen können.
Neu für die SPD-Kultur ist auf jeden Fall, dass die Delegierten in Wiesbaden überhaupt die Wahl haben. Das letzte Mal, dass es in der SPD eine Kampfkandidatur um einen Spitzenjob gab, liegt eine Weile zurück. 2005 wollte eine aufstrebende Jungpolitikerin gegen den Willen der SPD-Spitze Generalsekretärin werden. Sie gewann, der damalige SPD-Chef Müntefering trat zurück. Ihr Name: Andrea Nahles.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid