Kevin Kühnert geht. Doch die Tür bleibt offen

Er galt als das politische Talent seiner Partei – jetzt ist SPD-Generalsekretär Kühnert zurückgetreten, aus gesundheitlichen Gründen. Bedauern kommt nicht nur von Anhängern

Foto: Vom Partei­linken zum Kanzler-Verkäufer: Kühnerts Aufgabe war zuletzt alles andere als leichtFoto: Jens Gyarmaty

Aus Berlin Anna Lehmann

Weg ist er. Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD, hat sein Amt am Montag mit sofortiger Wirkung niedergelegt. Und nicht nur das, er wird auch nicht mehr als Kandidat zur Bundestagswahl 2025 antreten. Kühnert machte seine Entscheidung selbst öffentlich und führte gesundheitliche Gründe an. Für einen Wahlsieg im nächsten Jahr brauche es den vollen Einsatz der gesamten SPD, schreibt er in einem Brief an die Genossen und Freunde: „Ich selbst kann im Moment nicht über mich hinauswachsen, weil ich leider nicht gesund bin“. Die Energie, die für sein Amt und einen Wahlkampf nötig seien, „brauche ich auf absehbare Zeit, um wieder gesund zu werden. Deshalb ziehe ich die Konsequenzen.“

Wie die taz aus Parteikreisen erfuhr, sei Kühnert nicht lebensbedrohlich erkrankt, sondern vor allem psychisch angeschlagen. Er sei erst einmal krankgeschrieben, werde auf absehbare Zeit auch nicht für Interviews zur Verfügung stehen.

Die Entscheidung sei ihm nicht leicht gefallen, schreibt Kühnert in der Erklärung. „Sie schmerzen mich, weil ich meine politische Arbeit mit Herzblut betreibe.“ Richtig sei sie trotzdem. Er trage Verantwortung für sich selbst – und für die SPD. „Indem ich mich jetzt ganz um meine Gesundheit kümmere, glaube ich, meiner doppelten Verantwortung am besten gerecht zu werden.“

Die beiden SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil hatte Kühnert wenige Tage zuvor informiert. Beide äußerten sich am Montag, kurz nachdem der Rücktritt publik wurde. Klingbeil, mit dem Kühnert auch privat befreundet ist, wirkte angefasst. „Es geht jetzt um Kevin, es geht um seine Gesundheit.“ Seine Entscheidung verdiene Respekt, man sei dankbar für seinen unermüdlichen Einsatz. „Als Freund kann ich nur sagen: hundertprozentige Unterstützung für den Weg, der jetzt vor ihm liegt.“ Auch Esken erklärte, sie sei bestürzt. Wenn er dafür bereit sei, werde für ihn immer eine Tür offenstehen.

Mit Kühnert verliert die SPD auf absehbare Zeit eines ihrer größten Nachwuchstalente. Der heute 35-Jährige war 2021 zum Generalsekretär gewählt und im Dezember 2023 mit großer Mehrheit im Amt bestätigt worden. Kühnert hatte die große politische Bühne 2017 als Juso-Vorsitzender betreten und brachte die Jungsozialisten kurz darauf mit fulminanten Reden gegen eine erneute Große Koalition in Stellung. Die No-Groko-Kampagne war zwar am Ende nicht erfolgreich, aber die Jusos waren unter Kühnert zum Machtfaktor und Kühnert selbst zu einem der einflussreichsten Politiker im internen Machtgefüge der SPD geworden. Dass Saskia Esken im Verbund mit Norbert Walter-Borjans 2019 Parteivorsitzende wurde, und zwar gegen einen gewissen Olaf Scholz, der zusammen mit Klara Geywitz antrat, verdankt sie maßgeblich Kühnert und den Jusos.

Ganz unumstritten war Kühnert aber zuletzt nicht mehr. Die für die SPD vergeigte Europawahl geht maßgeblich mit auf sein Konto. Es war die erste große Wahl, die er als Generalsekretär zu managen hatte, als Ziel hatte er sich 16 Prozent plus x gesteckt. Am Ende landete die SPD bei mageren 13,9 Prozent.

Zudem brachte es das Amt als Generalsekretär mit sich, dass der Glanz des Polit-Popstars allmählich verblasste. Aus dem Parteilinken und einstigen Scholz-Kritiker war seit der Bundestagswahl ein Kanzler-Verkäufer geworden, das Rebellische hatte sich in zahllosen Talkshowauftritten, in denen er die Politik der Ampel zu verteidigen hatte, abgeschliffen. Kühnert selbst machte zwischen den Zeilen deutlich, wie sehr er zuweilen mit der Aufgabe haderte. So kritisierte er nach der Europawahl „unklare Signale“ aus dem Kanzleramt zum Ukrainekrieg. Der Kanzler, den er gerade großflächig als Friedenskanzler plakatiert hatte, hatte mitten im Wahlkampf entschieden, dass die Ukraine mit westlichen Waffen auch Ziele in Russland angreifen darf. Auch zuletzt sparte er im Spiegel-Interview nicht mit Kritik am Kanzler, wünschte sich „mehr Mut“.

Trotz der Pannen im Wahlkampf und obwohl Klingbeil sich zuletzt stärker als bisher in die Planung des Bundestagswahlkampfes einschaltete (und damit Kühnert auch ein Stück weit entmachtete) – zum Rücktritt gedrängt worden war Kühnert deswegen nicht. Wie die taz aus seinem Umfeld erfuhr, habe es für ihn „keinerlei Zusammenhang“ mit dem Wahlergebnis vom Juni gegeben.

Ge­nos­s:in­nen reagierten betroffen. „Kevin Kühnerts Rücktritt hat uns überrascht“, so die Berliner Landesvorsitzenden Nicola Böcker-Giannini und Martin Hikel in einer Presseerklärung. Kühnert hatte 2021 das Direktmandat im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg für die SPD zurückerobert, war zwischenzeitlich auch mal als Geheimtipp für den Posten des Regierenden Bürgermeisters im Gespräch. Ein Gerücht, das er selbst nie streute, sondern welches ihn eher amüsierte. Aber wer weiß: „Die Türen der Berliner SPD stehen ihm immer offen“, so die Landesspitze.

„Der politische Betrieb kann ein hässlicher Raubbau sein“

Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP

Auch bei der Parteikonkurrenz überwiegt das Bedauern. „Kevin Kühnert ist einer der klügsten und schlagfertigsten Politiker, die ich kennenlernen durfte“, schreibt die Noch-Parteivorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, die Ende September ebenfalls ihren Rücktritt bekannt gegeben hatte. Und auch die FDP-Europaabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmerman wünschte Kühnert auf X alles Gute: „Der politische Betrieb kann ein hässlicher Raubbau sein. Egal, was einen politisch trennt – wenn es um die Gesundheit geht, wird fast alles zweitrangig.“

Für die SPD, das machten Klingbeil und Esken bei allem Bedauern deutlich, geht es jetzt darum, die Parteizentrale im Schnellverfahren wahlkampftauglich aufzustellen und ein Jahr vor der Bundestagswahl einen Schlüsselspieler einzuwechseln. Gebraucht wird eine Person, die Erfahrung hat, parteiintern gut vernetzt ist und Kampagnen organisieren kann. Die Aufgabe ist gigantisch. Die SPD ist aktuell in Umfragen mit 17 Prozent weit von den 25,7 Prozent entfernt, die vor drei Jahren reichten, um stärkste Kraft zu werden. Die von ihr angeführte Ampel ist so unbeliebt wie nie und auch Scholz’ Beliebtheitswerte sind auf einem Tiefpunkt.

Dennoch übt man sich in der Parteizentrale im Optimismus. „Wir wollen diesen Wahlkampf gewinnen. Meine feste Überzeugung ist es, dass man Erfolg organisieren kann“, meinte Klingbeil am Montag. EinE NachfolgerIn soll nach am Montagabend bestimmt werden. Ab 18 Uhr treffen sich die Parteigremien zu digitalen Sitzungen. „Wir sind vorbereitet“, so Esken. Wer auf Kühnert folgt, wird die Parteispitze am Dienstag offiziell bekannt geben. Für 13.45 Uhr lädt sie zur Pressekonferenz ein.