SHORT STORIES FROM AMERICA: Das Mädchen der Quayles

Im laufenden Präsidentschaftswahlkampf gibt es niemanden, den ich so wenig beneide wie das Mädchen der Quayles. Ich meine die Frau, die bei den Quayles die Betten macht, die Pfannen scheuert, die Krümel unter dem Eßtisch zusammenfegt, den Mülleimer leert und Spüle und Toilette putzt — wenn sie nicht gerade die drei Quayle-Kinder zum Fußball- oder Eislauftraining fahren muß. Die Frau, die beim Hühnerausnehmen diese Kinder am Küchentisch um sich versammelt, während sie mit den Füßen scharren und in der weitschweifigen Beschreibung ihres täglichen Tuns verraten, wes Geistes Kind sie sind: ich meine die Frau, die das Heim zu ihrem Beruf erwählt hat. Ich beneide sie nicht, denn sie muß so tun, als gäbe es sie gar nicht.

Marilyn Quayle hat das Hausfrauendasein zur Karriere erhoben. Ein Mädchen? Welches Mädchen? Fragen ihre Sekretärinnen, ihre Wahlhelferinnen, ihre Redenschreiberinnen und PR- Fachfrauen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß das Mädchen der Quayles großen Spaß daran hat, anderen Frauen — von einem Einkaufswagen zum anderen — telepathisch beizubringen: „Nicht mich sehen Sie hier, nein: hier langt Marilyn die Cornflakes vom Regal. Denken Sie immer nur: Marilyn.“ Marilyn, die Hausfrau. Ich kann mir vorstellen, daß ihr Hausmädchen Krämpfe kriegt, wenn sie mit den anderen Eislaufmuttis vor der Eisbahn steht und denkt: „Ich kann euch leider nicht sagen, was ich von Charles und Prinzessin Di halte, denn ich bin gar nicht da. Es ist Marilyn, die sich hier den Hintern abfriert.“ Marilyn, die hauptberufliche Hausfrau.

Das dürfte das Mädchen der Quayles auf die Palme bringen, denn zu Di wüßte sie bestimmt so viel zu sagen wie alle anderen und mit demselben Recht, gar nicht zu reden von dem, was sie denken könnte. Aber es läßt sich schlecht schwatzen, wenn man beiseite stehen muß und am besten gleich ganz aus dem Blickfeld verschwindet. Viele politische Beobachter hegen die Befürchtung, Dan Quayle als Sprachrohr der äußersten Rechten halte nicht allzu viel von Bürgerrechten wie der Rede- und der Versammlungsfreiheit. Ich frage mich, was das Mädchen davon hält, wenn sie mit Einkaufstüten beladen über den Schulparkplatz schlurft.

Vielleicht hätte sie es leichter, wenn sie die Einkäufe für die Quayles später am Abend erledigen würde — dann laufen weniger Leute herum, die sie schräg ansehen und sagen: „Wenn Marilyn so eine gute Hausfrau ist, was haben dann Sie hier zu tun?“ Aber ich denke mir, daß Marilyn von ihrer Nicht-Arbeit in ihrer Büroflucht gegenüber dem Büro ihres Mannes so gegen sieben Uhr abends nach Hause kommt. Marilyn, die ständig sich opfernde, die Nur- Hausfrau. Und gegen sieben soll dann das Mädchen das Essen servieren und nicht Gemüse einkaufen. Außerdem ist der Supermarkt um diese Zeit voller Frauen, die keine Zeit haben, tagsüber einzukaufen. Arbeitende Frauen — sie könnten das Mädchen von der Seite ansehen und sagen: „Marilyn kann leicht im Fernsehen erzählen, sie lebe nur für ihre Familie — wenn sie jemanden dafür bezahlt.“

Der Supermarkt am Abend — das ist genau der Ort, an dem man Frauen findet, die sich keine Mädchen leisten können, weil ihr Stundenlohn — genauso wie alle Stundenlöhne im ganzen Land — seit 1989 um 3,2 Prozent gefallen ist — falls sie mit ihrem Verdienst sich denn jemals ein Mädchen leisten konnten. Im Supermarkt am Abend begegnet man den Frauen von Männern, die jährlich 3.500 Dollar weniger verdienen, als Männer ihres Alters und vergleichbarer Ausbildung im Jahre 1979 bekamen, bevor Reagan sein Amt antrat — die Inflation gar nicht mitgerechnet. Allein im letzten Jahr sank der Mittelwert der Jahreseinkommen der Haushalte um 1.077 Dollar. Im Supermarkt am Abend findet man Frauen aus der Zahl der 167.000 Menschen, die im August ihre Arbeit verloren. Tagsüber können sie nicht einkaufen, weil sie dann nach Arbeit suchen, zum Beispiel als Mädchen bei jemandem wie den Quayles.

Der Wirtschaftsausschuß beider Häuser des Kongresses weiß zu berichten, seit 1990 seien 1,6 Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen. Der Präsident des Gewerkschaftsbundes AFL- CIO meint, wenn in den Arbeitslosenzahlen auch die Menschen enthalten wären, die nur Teilzeit-Jobs haben, obwohl sie Ganztagsarbeit brauchen, und diejenigen, die die Arbeitssuche aufgegeben haben, dann läge die Zahl der Arbeitslosen bei 18 Millionen — eine Arbeitslosenrate von 14 Prozent. Abends im Supermarkt können Sie das nachprüfen.

In der gleichen Woche teilte das Arbeitsministerium den Abschluß des nordamerikanischen Freihandelsabkommens zwischen den USA, Kanada und Mexiko bekannt — das wird noch einmal 150.000 US-Bürger den Job kosten, wenn die Regierung nicht für Umschulung sorgt. In der gleichen Woche gab General Motors, der größte Produzent im Lande, bekannt, daß sein Vorzeigebetrieb Willow Run in Ypsilanti, Michigan, geschlossen würde. General Motors machte im letzten Jahr 4,5 Billionen Dollar Verlust (ganz recht: Billionen, nicht Milliarden) und will seine Belegschaft bis 1995 um 74.000 verringern. In Ypsilanti wird es dann keinen besseren Supermarkt mehr geben, und auch sonst nicht mehr viel.

Immerhin braucht das Mädchen der Quayles nicht dort einzukaufen, wo ihr Seitenblicke zu verstehen gäben: „Marilyn will gar nicht arbeiten? Sagen Sie ihr, sie soll nach Ypsilanti kommen und mir ihre Arbeit geben, die mit den vielen Angestellten und dem großen Büro.“ Marilyns Mädchen braucht wahrscheinlich auch nicht zusammen mit den 35,7 Millionen einzukaufen, die nach offizieller Regierungsnorm als „arm“ gelten (mit einem Jahreseinkommen von 13.924 Dollar oder weniger für eine vierköpfige Familie), denn deren Seitenblicke wären wahrscheinlich noch deutlicher: „Marilyn will nur ihrem Heim leben? Wenn ich ein Heim hätte wie sie, säße ich auch nur zu Hause auf meinem Arsch.“

Diese offiziell Armen sind die Mütter der 22 Prozent der amerikanischen Kinder unter der Armutsgrenze, die die Statistik der Säuglingssterblichkeit füllen und hungrig bleiben. (Nach Schätzungen des Kinderschutzbundes bekommen 5,5 Millionen US-Kinder regelmäßig nicht genug zu essen.) In der Zahl der 35,7 Millionen offiziell Armen ist eine Steigerung im letzten Jahr um 2,1 Millionen und um 4,2 Millionen in den letzten beiden Jahren enthalten: eine Armutsrate von 14,2 Prozent, und die Obdachlosen sind dabei noch gar nicht mitgerechnet.

Das Mädchen der Quayles braucht keinen armen Frauen zu begegnen, wenn sie im Quayles- Teil der Stadt für die Quayles Besorgungen macht. Arme Frauen gehen nicht in die gleichen Läden. Aber wenn sie nach Hause kommt und noch einmal für die eigene Familie kochen, putzen und einkaufen muß, könnte sie durchaus der einen oder anderen armen Frau über den Weg laufen — je nachdem, wo sie wohnt, und das wiederum hängt davon ab, was die Quayles ihr zahlen.

Ich finde die Haltung der Quayles verwirrend: Wenn nur das Leben als hauptberufliche Hausfrau und Mutter dem „wahren Wesen“ der Frauen entspricht und die beste Lösung für das Familienleben darstellt, wie es Marilyn beim Parteitag der Republikaner und auch sonst bei jeder Gelegenheit von sich gegeben hat — wie kann sie es dann auf ihr Gewissen laden, andere Frauen — ihr Mädchen, ihre Sekretärinnen, Wahlhelferinnen und Redenschreiberinnen — aus ihren Familien zu reißen, damit sie für die Quayles arbeiten? Marilyn lebt von weiblicher Arbeit, Marilyn, die selbstlose, die Nur-Hausfrau.

Und noch was ganz anderes: Bushs Pressesprecher Marlin Fitzwater wollte erklären, was der Präsident damit gemeint hatte, als er davon sprach, es gebe „keine neuen Steuern“ — nachdem er vor zwei Jahren offen gelogen hatte. Bush, meinte Fitzwater, sei gegen die Steuererhöhungen, wie sie die Demokraten vorschlagen. Und die Steuererhöhungen der Republikaner?, wurde er gefragt. „Das kam gar nicht zur Sprache.“

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning

DASMÄDCHENDERQUAYLES