SERBIEN ZWISCHEN MACHTWECHSEL UND DEMOKRATISCHER WENDE: Mühseliger Marsch
Am Ende hatten die Menschen in Serbien einfach die Nase voll. Ein ganzes Jahrzehnt lang haben sie Kriege, Inflation, Armut und internationale Isolierung und Verhöhnung über sich ergehen lassen. Bis sie die Kraft fanden, Slobodan Milošević zu entmachten, den Souverän, dem Serbien und das serbische Volk von einer katastrophalen Niederlage in die andere gefolgt sind.
Die Bürger Serbiens haben nicht „für“ die „Demokratische Opposition Serbiens“ (DOS) gekämpft, sondern „gegen“ Milošević, der sie bettelarm gemacht und erniedrigt hat. Und nicht weil er all die Kriege angezettelt, sondern weil er sie verloren hatte. Den Volksaufstand hat letztendlich der Wunsch nach einem besseren und friedlichen Leben, einem höheren Lebensstandard und sozialer Sicherheit ausgelöst. Die sozialen Unruhen, die DOS organisiert und gekonnt in den eigenen politischen Sieg verwandelt hat, wurden erst im Nachhinein in eine „demokratische Revolution“ umgemünzt. Doch einer „demokratischen Wende“ steht noch ein langer und mühseliger Marsch durch die absolutistisch eingestellten und von der alten Milošević-Nomenklatura besetzten staatlichen Institutionen bevor.
Der rasche Abbauprozess des alten Machtsystems ist notwendig. Doch DOS hilft der Demokratisierung Serbiens durchaus auch mit undemokratischen Mitteln nach. Unzählige, oft selbst ernannte „Krisenstäbe“ übernehmen nicht nur die Kontrolle über staatliche Institutionen, sondern über einzelne Fabriken und Unternehmen. Die Bildung der serbischen Übergangsregierung war weniger das Resultat politischer Verhandlungen als das einer klaren Erpressung: Wenn die Milošević-Sozialisten nicht nachgäben, drohten DOS-Führer mit neuen, gewalttätigen Massenprotesten.
In diesen ersten turbulenten und euphorischen Wochen der Wende kann man alle unblutigen Mittel rechtfertigen, die geradewegs zur gelobten Demokratie führen. Dennoch sind Nachdenklichkeit und Vorsicht nicht unangebracht. Die meisten DOS-Parteien sind genauso wie die Milošević-Sozialisten auf einen starken Parteiführer fixiert, und innerhalb der „demokratischen“ Parteien geht es zumeist alles andere als demokratisch zu. Auch wenn viele DOS-Führer den Eindruck erwecken wollen: Der „Machtwechsel“ ist noch keine „demokratische Wende“.
Der neue jugoslawische Präsident, Vojislav Koštunica, hat geschworen, dass ihn „die Macht nicht verändern werde“. Ob er und die neuen Machthaber der Versuchung widerstehen werden, wird sich in Kürze zeigen. ANDREJ IVANJI
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen