SCHADENSFONDS: Materieller Ausgleich
Seit zehn Jahren haben jugendliche Straftäter in Berlin die Möglichkeit, zur Wiedergutmachung ihrer Taten zu arbeiten - um die Opfer zu entschädigen.
Zwei Berliner Jugendliche brechen gegen ein Uhr morgens in einen Verkaufsstand für Backwaren ein. Die Schüler werden gefasst, verurteilt und müssen 500 Euro an den Geschädigten zahlen. Aber die beiden haben gar kein Geld – es würde dem Bäcker also auch nichts bringen, seine Forderungen einzuklagen. Und ein sogenannter Täter-Opfer-Ausgleich, bei dem sich Täter und Opfer treffen, um den Vorfall emotional aufzuarbeiten, würde zumindest den finanziellen Schaden allein nicht beheben.
Um das zu ändern, hatten Jugendrichter Andreas Dietz am Amtsgericht Tiergarten und drei Kollegen vor zehn Jahren eine Idee: Sie richteten einen Schadensfonds für Opfer ein. „Geschädigte wollen oft gar kein aufwendiges Verfahren, sondern vor allem einen materiellen Ausgleich“, sagt Dietz. Anstatt also die Jugendlichen zu verurteilen, das Opfer aber leer ausgehen zu lassen, kann der Schaden seitdem abgearbeitet werden, sofern die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird: in einer gemeinnützigen Einrichtung zum Beispiel, oder auch im nichtpädagogischen Bereich, etwa in einem Fahrradladen. Finanziert wird der Fonds über Bußgelder aus Verfahren von zahlungsfähigen Straftätern.
Heute machen alle Jugendabteilungen des Amtsgerichts Tiergarten und fünf Jugendstrafkammern des Berliner Landgerichts Gebrauch vom Schadensfonds. Den Erfolg erklärt sich der Sprecher der Strafgerichte, Tobias Kaehne, so: „Man will auf unkomplizierte Art und Weise zu Rechtsfrieden beitragen.“ Laut den Jahresberichten der Integrationshilfe des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks, die das Projekt mitträgt, wurden seit Bestehen des Fonds rund 114.000 Arbeitsstunden von jungen Straftätern geleistet. Rund 570.000 Euro wurden an die Opfer ausgezahlt. „Damit konnte ein Schadensausgleich für 80 bis 90 Prozent der Straftaten erzielt werden“, sagt Jugendrichter Dietz.
Diese hohe Quote kommt auch deshalb zustande, weil sich die meisten Straftaten in Berlin von Jugendlichen und jungen Heranwachsenden bis 21 Jahren zumindest finanziell recht einfach wiedergutmachen lassen. So gehören zu den häufigsten Straftaten Körperverletzungen sowie Diebstahl, Raubüberfälle und Sachbeschädigungen. „Mit dem Programm gelingt es, die Opfer zeitnah zu entschädigen“, so Kaehne. Sei es Geld für ein gestohlenes Mobiltelefon, eine eingeschlagene Fensterscheibe oder auch ein Ausgleich für infolge der Tat notwendige Arztbesuche.
Die Methode hat natürlich auch ihre Grenzen: Körperliche oder emotionale Schäden lassen sich nicht so einfach wiedergutmachen wie finanzielle. Zudem ist diese Form der Entschädigung auch in finanzieller Hinsicht zumindest dann nicht mehr sinnvoll, wenn die Schadenssumme so hoch ausfällt, dass sie nur durch eine unrealistische Anzahl an Arbeitsstunden abgearbeitet werden kann.
Gibt es neben der finanziellen Entschädigung auch einen Lerneffekt bei den jugendlichen Straftätern? Jugendrichter Dietz jedenfalls sagt, er sehe die meisten Jugendlichen, die er einmal verurteilt hat, selten wieder. Das kann allerdings nicht nur auf das Programm zurückgeführt werden: 60 bis 70 Prozent der Täter in diesem Alter – es sind fast viermal mehr Jungen als Mädchen – werden ohnehin nur ein- bis zweimal straffällig. Nur fünf bis zehn Prozent sind sogenannte Intensivstraftäter. Und „bei denen bringt die Methode sowieso nicht mehr viel“, sagt Gerichtssprecher Kaehne.
So oder so: Der Täter muss sich durch die fällige Entschädigung mit seiner Tat auseinandersetzen: „Im besten Fall lernt er, wie leicht ein Schaden verursacht werden kann – wie schwer es hingegen ist, den Schaden wieder auszugleichen“, sagt Richter Dietz. Für die Jugendlichen kann diese Form des Ausgleichs noch auf eine weitere Art wichtig sein: Susanne Meyer von der Integrationshilfe des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks sagt, sie habe schon oft erlebt, dass Jugendliche zunächst Reue empfinden, und durch die Arbeit dann auch eine gewisse Entlastung von ihrer Schuld. Zumindest, wenn das Urteil den Tätern überzeugend erklärt werden konnte.
Der Geschädigte vom Verkaufsstand für Backwaren jedenfalls hat seine 500 Euro wiederbekommen. Beide Täter arbeiteten dafür je 50 Stunden. Interesse an einer weiteren Strafverfolgung hatte der Bäcker nicht – persönlich entschuldigt hatten sich die beiden schon bei ihm.
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