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Ruth Rehmanns neuer RomanSelbstbefragung ohne Nabelschau

Ruth Rehmann ist eine große verkannte Autorin der Nachkriegsliteratur. Ihr neuer Roman heißt "Ferne Schwester" - eine Bastelbiografie vor sechzig Jahren

Oberbayern ist die Heimat von Ruth Rehmann und auch einer der Schauplätze ihres neuen Romans. Bild: dpa

Lange hat man nichts mehr gelesen von Ruth Rehmann, man fürchtete schon, die 1922 geborene, im Chiemgau lebende Autorin sei verstummt. Und jetzt das: ein neuer Roman, der so frisch, so lebendig, so jung daherkommt, man mag kaum glauben, dass seine Schöpferin im Juni 87 Jahre alt geworden ist. Vor mittlerweile einem halben Jahrhundert ist ihr erster Roman "Illusionen" erschienen, bezeichnenderweise 1959, dem Annus mirabilis der deutschen Nachkriegsliteratur, das die Leser mit jeder Menge Hochkarätigem beglückte: mit der "Blechtrommel" von Günter Grass, den "Mutmaßungen über Jakob" von Uwe Johnson und Heinrich Bölls "Billard um halbzehn". Im Jahr zuvor hatte sie in der Gruppe 47 daraus vorgelesen, und Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld hatte sie sogleich unter Vertrag genommen. Weitere Romane, Erzählungen und Hörspiele folgten - zuletzt "Fremd in Cambridge" (1999) -, und ihren größten Erfolg feierte Rehmann wohl 1987 mit "Die Schwaigerin", dem Roman über die Bäuerin Anni und das Tal, in dem sie lebt und in das die Moderne Einzug hält. Er gilt noch immer als eines der Paradebeispiele dafür, dass Heimatliteratur in höchstem Maße "modern" sein kann, ohne deshalb gleich "Antiheimatliteratur" sein zu müssen.

"Ferne Schwester" ist, wie viele Texte Rehmanns, autobiografisch grundiert. Die junge Frau, die hier erzählt bzw. Briefe an ihre "Schwester" (die nur eine geistige, keine leibliche ist) schreibt, trägt zwar den Namen Madeleine, doch ihre Lebenskoordinaten entsprechen denen der Autorin. In den letzten Kriegsmonaten "dienstverpflichtet", hat es sie bei Kriegsende nach Oberbayern verschlagen, wo sie sich als Sängerin und mit Hilfstätigkeiten auf einem Bauernhof über Wasser hält. Per Zufall reist sie mit einer Journalistengruppe nach Algerien, wo sie schon wieder den nächsten Krieg heraufziehen sieht. Von dort kehrt sie zurück nach Europa und sucht in Paris nach Clara. Diese war ihr schon in Deutschland begegnet und hatte sich dem Orden der "kleinen Schwestern von Jesus" angeschlossen. Sie ist inzwischen jedoch nach Indien gegangen, um dort "mit den Aussätzigen zu leben. Wenn wir nicht unser Leben anbieten, haben wir nichts zu bieten."

Bild: taz

Foto: taz

Diese Clara, die ebenfalls eine reale Person als Vorbild hat - ihr ist der Roman zugeeignet -, wird für Madeleine zu einer Art rettendem Anker inmitten des dahinfließenden Daseins. "Sie soll dir sagen, was du tun sollst, aber eigentlich musst du das selber wissen", sagt eine von Claras Mitschwestern, doch die Entscheidung über das Wohin und Wozu des eigenen Lebens kann Madeleine natürlich niemand abnehmen: keiner der vielen Männer, mit denen sie ein Zusammenleben erprobt, keine Ordensschwester, keines der Bücher, das sie liest (Camus etc.). Sie selbst muss diese Entscheidung treffen, und der elend schwere Weg dorthin ist Thema dieses Romans.

Rehmanns Roman schildert jedoch nicht nur das Schicksal einer individuellen Emanzipation, sondern er ist auch der Roman einer ganzen Generation: "Wir sprachen auch über uns, unsere mehr oder weniger gewaltsam abgebrochenen Kindheiten und was davon übrig geblieben war in der Unordnung von Krieg und Auflösung." Die Angehörigen dieser Generation waren meist zu jung war, um während des Nationalsozialismus persönlich schuldig zu werden, aber zugleich alt genug, um die geistigen und materiellen Verheerungen in ihrer ganzen Wucht zu erleiden. "Vielleicht hatte ich keine Zeit, eine dichte Person zu werden - zu früh, zu schnell in den Krieg, in die Flucht geworfen, an der Oberfläche dahingetrieben, ohne je Boden unter die Füße zu kriegen." Flüchtig, ziellos taumeln sie, die bei Kriegsende Anfang zwanzig waren, durchs Leben, das vor allem geprägt ist von Verlusten: gescheiterten Lebensplänen, verlorenen Freunden, fehlendem Zuhause. Fern scheint uns Heutigen diese Welt der unmittelbaren Nachkriegsjahre zu sein, aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass diese existenziellen Fragen keineswegs zeitgebunden sind: "Bastelbiografien" gabs auch schon vor sechzig Jahren.

"Ferne Schwester" ist ein Buch voller Lebensweisheit, aber es stellt diese Weisheit an keiner Stelle zur Schau, sondern schildert eindrucksvoll die bitteren Erfahrungen, die ihr vorausgehen. "Ich brauche das Schreiben, um mein Leben anzuschauen und zu befragen." Doch diese Befragung des eigenen Daseins ist fern jeglicher Nabelschau, sie wird mit einer Eindringlichkeit und (nicht zuletzt sprachlichen) Lebendigkeit geschildert, die staunen machen. Im Vergleich dazu wirken beispielsweise die autobiografischen Einlassungen des "Zwiebelhäuters" Günter Grass peinlich selbstgefällig.

Man könnte dieses Alterswerk einer der großen Verkannten der Nachkriegsliteratur als Sensation bezeichnen. Aber das würde dem Feinsinn dieses Romans nicht gerecht. Dass diese Autorin so wenig Aufmerksamkeit erhält, darf man aber als Skandal bezeichnen.

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