Russland vor den Wahlen: Das Putin-Dilemma
Die Partei des Kremlchefs wird gewinnen. Doch laut Verfassung darf Putin nicht länger im Amt bleiben. Wie er sich deswegen verhalten will, hat er noch nicht verraten.
MOSKAU taz Der TV-Auftritt Wladimir Putins war für Donnerstag angekündigt und wurde mit großer Spannung erwartet. Am Sonntag sind die RussInnen aufgerufen, in einem als Parlamentswahlen getarnten Referendum Wladimir Putin ihre Stimme zu geben. Auf drei Fragen hofften die Bürger und Bürgerinnen durch Putins Fernsehauftritt eine Klärung zu erfahren. Bleibt der Präsident im Amt, auch wenn die Verfassung eine Wiederwahl verbietet? Wenn nicht, wer könnte bei den Präsidentschaftswahlen im März sein Nachfolger werden? Und wird die Duma nach einem hohen Sieg der Kremlpartei vielleicht das Gefüge des politischen Systems verändern, um Putin in einer anderen Funktion die Macht im Land zu sichern? Die Mehrheit der Bürger würde dies begrüßen. Egal ob dabei dem Recht Gewalt angetan wird oder nicht.
Die Zuschauer warteten vergebens. Kremlchef Putin behielt die Lösung des Rätsels für sich. Auch der Zeitpunkt der TV-Ansprache wurde geheimgehalten. Plötzlich, um 12 Uhr mittags, erschien der Kremlchef dann doch im staatlichen Fernsehen. Putin forderte die Bürger auf, zu den Wahlen zu gehen. Denn es sei "eine gefährliche Illusion anzunehmen, alles sei vorentschieden und die eingeschlagene Entwicklungsrichtung sei gesichert". Die Rückkehr jener an die Macht, die schon einmal das Land gelenkt hätten, dürfe man nicht zulassen, warnte der Kremlchef. Damit spielte er auf die superreichen Oligarchen und die Führungselite unter Vorgänger Boris Jelzin in den 90er-Jahren an. Neben dem Westen als Gegner erkor der Kreml diesen Kreis zu den innenpolitischen Volksfeinden im Wahlkampf. "Schakale" nannte der Präsident diesen Personenkreis letzte Woche vor Mitgliedern einer für ihn inszenierten Jubelveranstaltung. Russland erinnert sich nicht mehr oder will sich einfach nicht erinnern: Auch Wladimir Putin als Vizebürgermeister in Sankt Petersburg, Mitarbeiter der Präsidialadministration, FSB-Geheimdienstchef und Ministerpräsident ist eine Schöpfung dieser Clique.
Der Kreml setzt auf die Polarisierung von Freund und Feind. Denn der als Wahlprogramm ausgegebene "Plan Putin", der "den Sieg Russlands" verheißt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein Sammelsurium dürftiger Visionen. Damit sind Wähler nicht an die Urne zu locken. Der träge Bürger, der zu Hause bleibt, ist der eigentliche Feind des Kreml. Er gefährdet die Zweidrittelmehrheit und die Legitimation, die der Kreml mit dem Plebiszit anstrebt, um sich für jede politische Wendung zu wappnen. Auch gegenüber der Kritik im Westen will sich Moskau damit absichern.
Das klandestine Verhalten offenbart die Schwachstellen des Systems, das auf Gedeih und Verderb vom Wohl Wladimir Putins abhängig ist. Mit ihm steht und fällt Russlands Stabilität. Russland steht erneut vor einem Systemwechsel und kehrt zurück zu den parallelen Strukturen von Staat und Partei nach dem Vorbild der gescheiterten KPdSU. Den russischen Sonderweg nennt der Kreml "souveräne Demokratie", die allerdings keine Merkmale moderner Staatlichkeit aufweist. Es ist ein Feudalsystem, das mit demokratischen Spoilern verkleidet wird. Das Volk als Souverän steht nur in der Verfassung.
Putin ist nicht in der Rolle des Garanten der Modernisierung gefragt. Seine Funktion beschränkt sich auf die Sicherung des Status quo. Hinter den Kulissen des Kreml wüten Schlachten verschiedener Clans. Tritt er ab, spitzt sich der Machtkampf zu. Daher sucht der Kreml nach einem Ausweg, Putin für eine dritte Amtsperiode als Spiritus Rector an der Macht zu halten.
Da der Präsident aber mehrfach gelobte, die Verfassung nicht anzutasten und keine dritte Amtszeit einzuführen, steht der Kreml vor einem Dilemma. Putin legt Wert darauf, sein Image als ehrlicher Politiker nicht zu verspielen. So verfielen seine Parteigänger zuletzt auf die kuriose Idee, die "Konfiguration der Macht" zu ändern und ihn zum "nationalen Landesführer" zu küren. Eine Bürgerversammlung sollte nach den Wahlen im März einen "Bürgerpakt für Einheit" verabschieden und eine neue Institution des nationalen Führers errichten. Der Nachteil ist: Das Institut muss noch geschaffen werden und stößt bei mehr als der Hälfte der Bürger auf Ablehnung. Die einfachste Lösung wäre, wenn Putin nach den Präsidentschaftswahlen abtrete und der neue Präsident für eine Amtsperiode oder kürzere Zeit die Geschäfte übernähme. Putin könnte sich nach geraumer Zeit wiederwählen lassen. Auch dieses Szenario birgt Nachteile. Es würde nicht nur den Geist der Verfassung verletzen, sondern eröffnet auch einem schwachen Ersatzkandidaten die Chance, eine eigene Hausmacht aufzubauen.
Nach einem Wahlsieg in der Dumawahl wäre es Putin auch möglich, die Funktion des Parteichefs zu übernehmen. Zwar hätte der Parteiführer nicht die verfassungsmäßigen Vollmachten eines Präsidenten. Die Rolle der Partei würde aber gestärkt. Die Nostalgie nach der Sowjetzeit und die Vertrautheit der Bevölkerung mit der Machtstruktur einer Partei begünstigen diese Variante. Die Schwächung des Präsidenten durch eine Verfassungsänderung ließe sich indes nicht umgehen. Das trifft auch zu, wenn sich Putin von der Duma zum Ministerpräsidenten wählen lässt. Dann müsste das Grundgesetz zugunsten des Regierungschefs umgeschrieben werden. Putin hätte sein Wort gebrochen. Die Verhaftung von zahllosen Oppositionellen diese Woche offenbart, wie unsicher der Kreml ist. Im Interesse des Machterhalts zeigt er offen autoritäre Züge. Die werden ab jetzt das politische System bestimmen. Daher dürfte auch ein Wortbruch bald nicht mehr so schwer wiegen.
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