: Russischer Märtyrer mit Hang zur Satire
■ Die Vorschau: Der Übersetzer Ralph Dutli liest aus dem Werk Ossip Mandelstams
Der 1891 in Warschau geborene Lyriker und Essayist Ossip Mandelstam zählt zu den bedeutendsten Dichtern nicht nur der russischen Moderne. Das Werk Mandelstams, der 1938 in einem Arbeitslager starb, verbindet den Alltag russischer Großstädte mit der eigenen, zunehmend von Repression gekennzeichneten Biografie. Mit „Die beiden Trams“, einem Band mit Kinder- und Scherzgedichten, der dieser Tage erschien, beendet der Russist und Übersetzer Ralph Dutli, Jahrgang 1954, seine zehnteilige Mandelstam-Ausgabe. Am Sonntag wird er in Bremen aus seinen Übertragungen lesen.
taz: Ossip Mandelstam hat bereits sehr früh seine Dichtung mit dem Bild der „Flaschenpost“ beschrieben. Wann, wie und warum hat Ralph Dutli diese aus dem Wasser gefischt?
Ralph Dutli: Tatsächlich fühle ich mich als glücklicher „Flaschenpost“-Finder. Ich habe immer darauf hingewiesen, dass nicht ich Mandelstam für den deutschsprachigen Raum entdeckt habe, sondern Paul Celan mit seinen Übertragungen aus dem Jahr 1959. So habe ich noch auf dem Gymnasium Mandelstam zum ersten Mal gelesen. Und ich war fasziniert von diesem Dichter, auch wenn ich kaum etwas verstanden habe.
Wie kommt man von jugendlicher Begeisterung zur Werkausgabe?
Irgendwann ergab sich die Notwendigkeit, das Werk in der Breite darzustellen. Ich wollte dies exemplarische Werk – sowohl der russischen Moderne wie der Weltmoderne – vorführen, in seinem ganzen Facettenreichtum. Und das hat dann gut zwanzig Jahre gebraucht.
Der erste Band mit autobiografischer Prosa erschien 1985. War es damals schwierig, einen Verlag zu finden, der ein so großes Projekt nicht nur großspurig ankündigt, sondern auch bis zum Schluss begleitet?
Ich habe mit Egon Ammann in Zürich den idealen Verleger gefunden, der mit gleichem Enthusiasmus zu Werk ging. Mit größter Freude hat er auch die zweite Linie verlegt; meine eigenen Essays zu Mandelstam oder auch „Die Geschichte einer Widmung“, ein Buch, das die Liebesbeziehung wie die poetische Beziehung Mandelstams mit Marina Zwetajewa im Jahr 1916 dokumentiert.
„Die beiden Trams“ vermitteln ein anderes, ungewohnt humoristisches es Bild Mandelstams.
Es gibt in allen vier großen Gedichtbänden satirische Elemente. Ich wollte es in dieser „Nachlese“ einmal herausstellen, weil Mandelstam oft nur als Märtyrer des Stalinismus wahrgenommen wurde. Es sollte auch die weihevolle Atmosphäre ein bisschen aufbrechen, die um Mandelstam entstanden ist. Mandelstam ist ein sehr sinnlicher Dichter, ein ganz im Dasein lebender, quirliger, intellektuell sprühender Autor. Mandelstam hat das so genannte akmeistische Programm als Polemik gegen die „Jenseitigkeit“ des Symbolismus schon sehr früh entwickelt.
Hat ihm das nicht auch die Möglichkeit eröffnet, den technokratischen Apparat der Sowjet-union zu reflektieren?
Aus der Polemik gegen den Symbolismus wird sicher irgendwann eine Polemik gegen den Totalitarismus. Die Akmeisten waren dem Diesseits zugewandt. Alle drei, neben Mandelstam auch Anna Achmatowa und Gumiljow, hatten einen schärferen Blick für die Epoche. Daraus ergab sich eine gewisse oppositionelle Qualität.
Das bedeutet aber doch nicht, dass er auf ganzer Linie ein Sys-temkritiker war?
Nein. Er hat das zaristische Russland nie verklärt. Er wollte zu diesem neuen sowjetischen Russland gehören. Nur hat er nicht auf das europäische kulturelle Erbe und die Werte des Humanismus verzichten wollen. Damit musste er irgendwann anecken.
Kann man bei einem ästhetisch wie politisch relevanten Dichter, wie Mandelstam es war, Brüche in der Rezeption ausmachen?
In der kurzen „Tauwetter“-Periode nach dem Tod Stalins 1953 wurden die verfemten Dichter wie Mandelstam wieder gelesen , aber sie wurden in Abschriften verbreitet. Mandelstam wurde ein Dichter des Untergrundes. Es hat sich allmählich sogar ein Mandelstam-Kult herausgebildet. Er wurde als Symbolfigur angesehen für ein ungebrochenes Künstlertum, das sich auch unter widrigsten Zeitumständen hat verwirklichen können. Viele dissidente Künstler der 60er und 70er Jahre haben sich an ihm orientiert. Eine unzensierte Druckausgabe gibt es tatsächlich erst seit Gorbatschow.
Fragen: Tim Schomacker
Sonntag, 11 Uhr, Hotel Maritim
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen