Russische Minderheit im Baltikum: Estlands Nationalisten profitieren
Radikale Russen in Estland sympathisieren mit Ultrarechten. Doch es gibt auch andere, die gegen den Krieg sind und Ukrainer unterstützen.
Mehrstöckige Plattenbauten dicht an dicht – das ist der Bezirk Lasnamäe im Osten der estnischen Hauptstadt Tallinn. Er gilt nicht nur als „russisch“, sondern teilweise auch als „prorussisch“. Manchmal hört man auch die ironische Bezeichnung „Volksrepublik Lasnamäe“ (LNR), in Anlehnung an die sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der Ostukraine.
Meine Freundin Ksenia stammt aus Tshernobajewka in der Region Cherson. Sie lebt bereits seit einigen Jahren in Lasnamäe. Mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine begannen ihre blauen und gelben Ohrringe und andere Attribute zur Unterstützung ihres Heimatlands, Blicke auf sich zu ziehen. „Zuerst dachte ich, dass ich gemeint sei. Aber dann kamen Verwandte aus der Ukraine und fragten: Warum sehen sie dich im Bus an wie einen Wolf?“, erzählt sie.
ist Journalist beim Petersburger Zweig des alternativen russischen Nachrichtenportals Bumaga, das mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine von der russischen Zensur gesperrt wurde. Er hat Russland verlassen.
Früher stimmten russischsprachige Wähler mit estnischen Pässen meist für die Zentrumspartei. Aber jetzt sind viele enttäuscht: Wegen der Unfähigkeit der Zentristen, die Interessen der russischsprachigen Minderheit zu verteidigen, zum Beispiel die Ausbildung in Schulen und Universitäten auf Russisch aufrechtzuerhalten. Aber auch wegen der offenen Unterstützung der Ukraine im Krieg.
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Bei den Parlamentswahlen im kommenden März ist der radikalste Teil der russischen Wähler jetzt bereit, die ultrarechte estnische nationalistische Partei (Ekre) zu unterstützen. Das einigende Band zwischen der Ekre und LNR sind Homophobie, Euroskeptizismus sowie der Widerwillen gegenüber ukrainischen Geflüchteten.
Aber das beschreibt nur einen extremen Pol, was die Ansichten innerhalb der russischen Gemeinschaft anbetrifft. „Für uns waren Begriffe wie,Besatzung' und,Besatzer' schon immer gängige Redewendungen“, gibt meine Kollegin Polina zu. Sie ist Russin und gegen Ende der Sowjetzeit in Tallinn geboren. Als estnische Staatsbürgerin spricht sie perfekt Estnisch, unterstützt die Ukraine und die Ukrainer. In diesem Sommer ist sie selbst nach Kyjiw gereist.
Der Krieg gegen die Ukraine erinnert sie an die Zeit vor 80 Jahren, als Estland nach der sowjetischen Besatzung seine Unabhängigkeit verlor.
In Estland leben heute 300.000 Personen, deren Muttersprache Russisch ist. Formal sind sie wirklich „Besatzer“ und „Kinder von Besatzern“ oder etwas milder ausgedrückt „sowjetische Kolonialisten“. Vor der Besetzung Estlands durch die Sowjetunion 1940 machten die Russen dort 8 Prozent der Bevölkerung aus, heute sind es rund 23 Prozent. Die sowjetischen Behörden holten Arbeiter und Militärs ins Land – die einheimische Bevölkerung wurde nicht nach ihrer Meinung gefragt –, um die ethnische Geschlossenheit aufzuweichen.
Polinas Mann ist Russe, der nach Estland gezogen ist. Er arbeitet als Freiwilliger für die NGO Mariupol Sõbrat (Freunde Mariupols). Sie hilft Geflüchteten aus der Ukraine, die auf der Durchreise in Estland sind. Die Verkehrssprache der Freiwilligen ist Russisch. Dem Team gehören Esten, Ukrainer, Belarussen und Russen sowie Migranten an, die erst vor Kurzem gekommen sind. Das ist der andere Pol. Welche Position die stärkere Anziehungskraft haben wird, lässt sich derzeit noch nicht sagen.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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