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Russische Menschrechtlerin im Interview „Es gibt uns noch“

Swetlana Gannuschkina erzählt im Interview und auf dem taz lab am 30. April 2022 von den politischen Repressionen im heutigen Russland.

Trotz der Repressionen denkt Swetlana Gannuschkina nicht daran, Russland zu verlassen Bernhard Clasen

taz lab, 05.02.2022 | Von ANASTASIA TIKHOMIROVA

taz: Frau Gannuschkina, welche Rolle spielen „Klima und Klasse“ im heutigen Russland?

Swetlana Gannuschkina: Wir haben viele Probleme – das größte ist die im Zustand einer aggressiven Apathie verharrende Gesellschaft. Die Leute sind aggressiv gegenüber Andersdenkenden, Migranten und gegeneinander. Dieser Hass wird zusätzlich durch staatliche Medien befeuert. Gleichzeitig sind sie apathisch und unwillig, selbst Veränderung zu erzeugen. Diese Gleichgültigkeit und Feindseligkeit führen dazu, dass sie es nicht schaffen, etwas von ihrer Regierung einzufordern. Die Klimafrage steht deshalb immer hinten an.

Und Klasse?

Vom Begriff „Klasse“ halte ich nicht viel, aber die soziale Ungleichheit im Land ist groß und es gibt immer mehr Arme. Unsere Regierung hat die Werte, die uns wichtig waren, gegen private Interessen eingetauscht. In Zeiten der Sowjetunion hat jeder immerhin eine gute Bildung oder medizinische Verpflegung erhalten. Heute ist das nicht mehr so. Den Leuten mangelt es vielerorts am Notwendigsten.

Es gab eine drastische Verschärfung der Repressionen gegen politische Gegner. Proteste sind faktisch verboten, die Anzahl politischer Gefangener wächst, auch Ihre Organisation, Memorial, welche politische Repressionen in Zeiten der Sowjetunion dokumentiert und für Menschenrechte eintritt, wurde aufgelöst

Noch ist das Urteil nicht in die Tat umgesetzt worden und unser Dachverband wird es anfechten. Bis zur Berufung arbeiten wir unverändert weiter. Der Vorwurf, wir seien „ausländische Agenten“, ist an den Haaren herbeigezogen. Aktuell wird außerdem meiner Flüchtlingshilfsorganisation Bürger­unterstützung die Nutzung städtischer Räume verwehrt. Nun müssen wir Gelder sammeln und private Räume suchen, um weiterexistieren zu können. Es gibt uns noch, vielleicht aber nicht mehr so lange.

Werden die Repressionen in Zukunft zunehmen?

Bisher werden wir „nur“ juristisch, nicht physisch liquidiert, obwohl einige von uns aufgrund ihrer politischen Arbeit bereits ihr Leben lassen mussten. Aber solche Massenrepressionen wie zu Stalins Zeiten gibt es noch nicht, und solange das der Fall ist, werden wir weiterarbeiten. Ich würde Russland niemals verlassen. Ich habe ein Recht auf meine freie Meinung und sehe es als meine bürgerliche Pflicht an, sie zu äußern.

taz lab Service

taz lab 2022 – Klima & Klasse, am 30. April 2022 ab 08.30 Uhr live im Stream auf tazlab.de

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Wie geht es weiter?

Letztendlich haben wir noch eine lebendige Zivilgesellschaft in Russland. Der politisch aktive Teil der Bevölkerung ist auch in anderen Ländern immer die Minderheit. Und es ist nicht wahr, dass die russische Jugend unpolitisch ist und sich nur für Geld interessiert. In den letzten Jahren sind sehr viele junge und aktive Menschen in unsere Organisationen eingetreten und arbeiten dort auf komplett freiwilliger Basis. Die Opposition heutzutage ist keine Partei, sondern die russische Zivilgesellschaft.

Es gibt die Befürchtung, dass sich das System selbst nach Putins Abgang nicht ändern wird. Sind Russland und die Demokratie in naher Zukunft unvereinbar?

Leider ähneln unsere politischen Zustände kriminellen Strukturen. Es gibt kein funktionierendes Parlament mehr, keine Judikative. Es gibt Korruption – Politiker und Beamte bekommen Befehle von oben und führen sie aus. Wir müssen die Verfassung vor unserer eigenen Regierung schützen.

Die Politiker walten, wie es ihnen beliebt. Sie kennen ihre eigenen Gesetze nicht und zweifeln an den Zahlen und Ergebnissen der regierungseigenen Studien. Ich denke, dass Demokratie eine unumgängliche Zukunft für jedes Land ist, das überleben möchte. Aber das, was die Regierung gerade tut, ist selbstmörderisch für Russland und damit schlussendlich auch für sie selbst.

Swetlana Gannuschkina kommt zum taz lab.