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Russische Angriffe auf InfrastrukturDie Routen des Krieges

Unser Autor fährt mit E-Auto und Bahn quer durch die Ukraine. Er erlebt Stromausfälle, nächtliche Luftangriffe. Und Menschen, die einfach weiter leben.

Folgen des russischen Beschusses von Kyjiw in der Nacht zum 14. November 2025 Foto: Danylo Antoniuk/imago

Die Ukrai­ne­r*in­nen werden täglich mit Hunderten Tonnen tödlicher Munition bombardiert. Doch nach jedem Angriff verlassen sie ihre Schutzräume, schließen ihre Ladestationen an, schicken ihre Kinder zur Schule und gehen mit vom Schlafmangel rotgeränderten Augen zur Arbeit. Die Besessenheit der Russen führt zu immer mehr Widerstand unter den Ukrainer*innen, obwohl immer häufiger die Rede davon ist, dass man Putin doch etwas geben müsse, damit er endlich aufhöre.

In der Stadt Poltawa

800 Kilometer Autofahrt – von einem Ende der Ukraine zum anderen. Mitte November. Ständiger Beschuss und Stromausfälle. Von Osten kommend erreichen wir mit unserem Elektroauto Poltawa – eine Stadt rund 350 Kilometer südöstlich von Kyjiw. Gerade kursieren Berichte, dass die Region komplett vom ukrainischen Stromnetz abgeschnitten ist.

Dies ist das Ergebnis mehrtägiger massiver russischer Angriffe auf Umspannwerke, die die Stadt und die Region im Osten des Landes mit Strom versorgen.

Überraschenderweise sind an diesem Abend in Poltawa mehr Oberleitungsbusse als Menschen unterwegs. Einige Straßen sind unbeleuchtet, der Aufzug des Hostels funktioniert nicht, aber es gibt fließend warmes und kaltes Wasser.

Krieg in der Ukraine

Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.

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In einem Bistro gibt es Kaffee. Trotz Stromausfalls ist es hell erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum. In jedem Büro und jedem Geschäft der Stadt laufen Generatoren, deren lautes Summen manchmal den Verkehrslärm auf den Straßen übertönt.

Von den aktuellen Angriffen russischer ballistischer Raketen und Drohnen auf Poltawa zeugen einzig und allein einige zerstörte Gebäude im Stadtzentrum. Der Sockel des Denkmals für den russischen Zaren Peter I. ist leer. Es wurde im vergangenen Februar entfernt.

Kein Strom in Boryspil

Das Reisen mit einem Elektroauto über längere Strecken ist in der Ukraine derzeit riskant. Wie Russisch Roulette, denn russische Raketen und Shahed-Drohnen haben die Ladestationen entlang der Strecke Poltawa-Kyjiw bereits mehrfach außer Betrieb gebombt. Gerade ist man auf dem Weg zu einer Ladestation, da muss der Energieversorger wieder einmal den Strom abstellen.

Irgendwann kommt er wieder. Aber noch vor Boryspil, zehn Kilometer von Kyjiw entfernt, ist an einer Tankstelle wieder Endstation. Denn gerade in der Nacht hatten die Russen erneut versucht, die Strom- und Heizungsversorgung in Kyjiw zu unterbrechen. Die ukrainische Hauptstadt leidet seit mehreren Wochen unter großflächigen Stromausfällen, die teilweise bis zu zwölf Stunden am Tag dauern.

Nächtlicher Kampf über Kyjiw

Von der Tankstelle lässt sich der nächtlicher Kampf beobachten: Die Russen nähern sich der ukrainischen Hauptstadt mit mehreren Wellen von Shahed-Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen, sie feuern zwei Kinschal-Hyperschallraketen ab. Der Himmel wird von weißen und roten Lichtern erleuchtet, man hört Explosionen.

Die Luftabwehr schafft es kaum noch, in den entsprechenden Telegram-Kanälen die Hauptstadtbewohner rechtzeitig über die neuen Bedrohungen zu informieren. Eine der Shahed-Drohnen wird fast über unseren Köpfen abgeschossen.

Die Luftwaffe meldet mehr als 400 Drohnen und 30 Raketen, die vor allem in Kyjiw einschlagen

Mehrere Gäste des Tankstellencafés sitzen draußen an einem Tisch und jubeln den ukrainischen Luftverteidigungskräften zu. „Los, Rakete, triff!“ Als einer der roten Strahlen am Himmel das russische Ziel trifft, ähneln die Emotionen an der Tankstelle der Reaktion der Fans auf ein Tor von Andrij Schewtschenko gegen Schweden bei der Fussball-EM 2012…

Mehr als 400 Drohnen auf Kyjiw in einer Nacht

Doch an diesem Abend herrscht keine gute Stimmung. Eine Kassiererin in einem Geschäft hatte ihre zwei Kinder zu Hause in Obolon zurückgelassen. Dieser Stadtteil von Kyjiw gerät als erster unter Beschuss. Eine Kollegin gibt ihr ein Beruhigungsmittel. „Die beiden sind klug, sie sind in die Metrostation gegangen, wie beim letzten Mal“, tröstet die Frau ihre Freundin.

In den sozialen Medien kursieren die ganze Nacht über Videos von Bränden, die durch Drohnentrümmer und auf die Drei-Millionen-Stadt niedergehende Raketen verursacht werden. Es gibt auch direkte Treffer. Die Luftwaffe meldet später mehr als 400 Drohnen und rund 30 Raketen verschiedenen Typs, die in jener Nacht vor allem in Kyjiw einschlagen. Als wir das Zentrum erreichen, endet der Luftalarm. In mehreren Stadtteilen wüten noch Brände.

Währenddessen verrichten die Reinigungskräfte am Bahnhof ihre Arbeit, ein Café mit frischen Croissants öffnet pünktlich. Und der Intercity von Kyjiw nach Luzk im Westen der Ukraine fährt planmäßig ab…

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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