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Russisch Roulette: Alles wieder offen

■ Mit den Stimmen von Kommunisten und Nationalisten lehnt Rußlands Parlament den von Jelzin vorgeschlagenen Ministerpräsidenten Tschernomyrdin ab. Alle Seiten warnen vor einem Volksaufstand, der Rubel fällt weiter

Moskau (dpa/rtr/taz) – Vorschnelle Hoffnungen auf einen Kompromiß im Moskauer Machtpoker haben sich zerschlagen: Die Duma lehnte gestern abend in einer offenen Abstimmung Wiktor Tschernomyrdin (60) als neuen russischen Ministerpräsidenten ab. Für den Kandidaten von Präsident Jelzin stimmten nur 94 Abgeordnete, 253 votierten gegen ihn. Die notwendige Mehrheit beträgt 226 Stimmen. Neben den Kommunisten und Nationalisten sprach sich auch die liberale Jabloko-Fraktion gegen Tschernomyrdin aus. Die Duma-Führung forderte Jelzin auf, einen anderen Kandidaten vorzuschlagen. Dieser will jedoch an Tschernomyrdin festhalten. Lehnt das Parlament ihn dreimal ab, wird es aufgelöst.

Sowohl KP-Chef Sjuganow als auch Jelzins Duma-Beauftragter Kotenkow warnten vor einem Aufstand für den Fall, daß die Krise nicht gelöst werden sollte. „Falls wir keine Einigung erreichen, wird alles auf der Straße ausgetragen“, sagte Sjuganow. Kotenkow erklärte: „Falls dieses Chaos mehrere Wochen andauern sollte, könnten am Ende weder Kommunisten noch wir übrigbleiben. Ich spreche von einem Volksaufstand, gnaden- und sinnlos.“ Ex-General Alexander Lebed, Gouverneur von Krasnojarsk, sagte, insbesondere die Streitkräfte seien in „revolutionärer Stimmung“. Nur mit Tschernomyrdin bestehe eine kleine Chance, „den Zusammenbruch zu verlangsamen“. Deshalb liege es im Interesse aller, Jelzins Kandidaten zu unterstützen.

Am Sonntag hatte es noch so ausgesehen, als ob sich die Regierung und die Opposition in der Staatsduma einigen könnten. Ihr Pakt sah vor, die Duma mit größeren Vollmachten auszustatten und Jelzin einen Teil seiner Kompetenzen zu entziehen. Im einzelnen wollte die Opposition der Regierung bis zu 18 Monate Zeit geben, die Finanz- und Wirtschaftskrise beizulegen, indem sich die Duma verpflichtete, vor Ende 1999 kein Mißtrauensvotum auf den Weg zu bringen. Im Gegenzug sagte Präsident Jelzin zu, das Kabinett im gleichen Zeitraum nicht drastisch umzubilden und nicht von seinem Recht zur Auflösung der Duma Gebrauch zu machen. Zudem sollte das Parlament mehr Mitspracherecht bei der Besetzung der Regierung erhalten.

Am späten Sonntag abend lehnten die Kommunisten das Abkommen jedoch ab. Zur Begründung sagte Sjuganow, die Garantien dafür, daß sich Jelzin daran halte, hätten nicht ausgereicht. Zwar würden die Kommunisten der Wahl Tschernomyrdins vorerst nicht zustimmen, jedoch sei die KP bereit, erneut Verhandlungen über Tschernomyrdins Bestätigung aufzunehmen. Der Kreml erklärte gestern, Jelzin werde das Abkommen erst unterzeichnen, nachdem die Opposition dieses gebilligt habe.

Der Sprecher der geschäftsführenden Regierung, Igor Schabdurassulow, erklärte, diese arbeite trotz des politischen Gerangels weiter an der Behebung der Finanzkrise. „Für uns herrscht ,business as usual‘“. Die russische Zentralbank senkte den Rubelkurs gestern um beinahe ein Fünftel. Fast alle Aktienmärkte reagierten gestern mit weiteren Abschlägen auf die unklare Lage in Rußland. Der US-amerikanische Dow-Jones-Index fiel erstmals seit Januar unter 8.000 Punkte.

Unterdessen unterbreitete die Europäische Union (EU) der Regierung in Moskau ein Hilfsangebot, dessen Einzelheiten zunächst nicht bekannt wurden. Gleichzeitig forderte der für Währungsfragen zuständige EU-Kommissar Yves Thibault de Silguy eine Analyse der Lage im Euro-Rat und sprach sich für ein Treffen der Ratsmitglieder aus. „Die russische Krise ist sehr ernst und betrifft uns alle“, sagte er. Tagesthema Seite 3

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