Rückkehr zum Leben in Kiew: Endlich wieder Staus
Cafés eröffnen, die Metro fährt – und Irina wartet in einem Schönheitssalon auf Kunden. Viele Menschen kehren in die ukrainische Hauptstadt zurück.
A uf den Straßen Kiews sind jeden Tag mehr Autos unterwegs. Vor bald zwei Monaten, kurz nach Beginn des Krieges, prägten kilometerlange Staus auf Kiews Ausfallstraßen das Bild. In den Fahrzeugen saßen Menschen, die sich zur Flucht vor den russischen Bomben und Raketen entschlossen hatten. Rund die Hälfte der etwa drei Millionen Bewohner verließ die Stadt. Jetzt entwickeln sich wieder Staus auf den Ausfallstraßen – aber in umgekehrter Richtung, nach Kiew hinein. Immer mehr Menschen kehren zurück. Nach Angaben des ersten Vize-Chefs der Kiewer Stadtverwaltung, Nikolai Poworosnik, sind es täglich rund 50.000.
Doch diese Rückkehr gestaltet sich schwierig. Fast überall finden sich immer noch die Checkpoints, Panzersperren und Betonplatten, die der russischen Armee den Weg versperren sollten. Nahezu alle Straßenschilder sind mit schwarzer Farbe übermalt. Das war das Werk der örtlichen Behörden und von Aktivist*innen, die so hofften, die russischen Truppen zu verwirren, sollte ihnen ein Einmarsch gelingen. Dazu ist es nicht gekommen. Aber jetzt sorgen die unkenntlichen Hinweisschilder für Verwirrung unter den zurückkehrenden Kiewern.
„Ich gebe zu, dass ich diese Staus in Kiew immer gehasst habe“, sagt Aleksei, dessen Familie gerade wieder in Kiew eingetroffen ist. „Aber dann habe ich angefangen, sie sogar ein wenig zu vermissen. Sie sind wieder da, und das heißt doch, dass das Leben wieder in diese pulsierende Metropole zurückkehrt.“
Doch in der Ukraine herrscht immer noch Krieg. Die Denkmäler und Statuen Kiews sind mit Sandsäcken bedeckt, um sie im Falle eines Raketenangriffs besser zu schützen. In der Stadt hängen riesige Plakate. Fast alle sind in russischer Sprache beschriftet, denn sie sind für die russischen Besatzer bestimmt. „Russischer Soldat, hör auf! Putin hat verloren, die ganze Welt ist mit der Ukraine!“ „Verschwinde, ohne Blut an den Händen!“ „Russischer Soldat, halte inne. Denk an deine Familie. Geh nach Hause mit reinem Gewissen!“ „Russischer Soldat, töte nicht für Putin. Werde nicht zum Mörder, hau ab! Bleibe ein Mensch!“, lauten die Aufschriften. Und: „Das Z ist das neue Hakenkreuz“.
Aleksei, Rückkehrer
Andere Plakate richten dankende Worte an ukrainische Soldaten, Freiwillige und überhaupt alle Ukrainer*innen für ihre Geschlossenheit und ihren Mut. „Ihr Lieben, haltet durch! Der Sieg kommt bald!“ „Wir müssen nicht gerettet werden. Unsere Heimat ist die Ukraine!“ „Russen weg!“ und: „Gott sei Dank, dass unsere Augen den Anbruch eines neuen Tages gesehen haben!“, steht darauf geschrieben.
Dennoch: Kiew erwacht nach dem Abzug der russischen Truppen in der Umgebung zu neuem Leben. Cafés, Restaurants, Bekleidungsgeschäfte, selbst Schönheitssalons sind plötzlich wieder geöffnet. Im Ausgehbezirk Podol, bekannt dafür, dass hier immer etwas los ist, sitzen Menschen an Tischen an den Straßen und genießen die ersten Strahlen der Frühlingssonne. Anders als in den ersten Kriegstagen sind die Regale in den Supermärkten wieder gut gefüllt. Brot, Graupen, Makkaroni, Milchprodukte und Fleisch – alles ist wieder erhältlich.
Die Busse und Straßenbahnen verkehren wieder, und immer mehr Stationen der Kiewer U-Bahn werden geöffnet, auch wenn der Zugbetrieb noch eingeschränkt bleibt. Doch an jedem Abend vor der Sperrstunde verwandelt sich die Metro für die Kiewer*innen wieder zu einer sicheren Zufluchtsstätte. Manche Menschen kommen schon aus Gewohnheit hierher, aber es gibt auch viele Einwohner, deren Häuser und Wohnungen zerstört sind und die nicht wissen, wo sie sonst hingehen sollen.
In den ersten beiden Aprilwochen erzitterte Kiew nicht mehr unter dem Donner von Explosionen. Aber das Sirenengeheul verstummte doch nicht. In der Nacht zum letzten Freitag schlugen drei Raketen in einen Maschinenbaubetrieb ein. In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages standen Außenbezirke unter Beschuss. Es ist ein Déjà-vu – für diejenigen, die sich dieser Geräusche schon entwöhnt hatten, aber auch für die, die gerade erst wieder in die Hauptstadt zurückgekommen sind.
Der Bürgermeister bittet um Geduld
Bürgermeister Vitali Klitschko wendet sich mit sorgenvollem Gesicht an die Bevölkerung und ruft mit eindringlichen Worten dazu auf, eine Rückkehr nicht zu überstürzen. „Dafür ist es noch zu früh. Wir verlassen uns ausschließlich auf die Einschätzungen des Militärs. Und diese lauten, dass die Gefahr von Raketenangriffen immer noch sehr groß ist“, sagt Klitschko. Die Räumung der Minen in der Nähe der Hauptstadt sei noch lange nicht abgeschlossen. Dort, so der Bürgermeister, gebe es bereits Todesopfer infolge von Explosionen. „Daher gibt es für eine Rückkehr keinen Grund zur Eile. Bitte wägen Sie alle Risiken ab“, sagt Klitschko. Natürlich könne man niemandem verbieten, wieder nach Hause zu kommen, die Behörden könnten allenfalls Empfehlungen aussprechen. „Das ist die Entscheidung eines jeden von Ihnen. Im Land herrscht immer noch Kriegsrecht. In Kiew ist es wieder ruhiger geworden. Aber vergessen wir nicht, dass die Hauptstadt Ziel des Aggressors war. Der Aggressor hat seine Pläne nicht aufgegeben und kann jederzeit zu einem neuen Schlag ausholen. Deshalb: Seien Sie vorsichtig und nehmen Sie die Lageberichte des Militärs ernst“, sagt Klitschko.
Die Stadtverwaltung nennt Ende Mai als ein realistisches Datum für eine Rückkehr. Dann könnten die Menschen wieder gefahrlos nach Kiew und in deren Umgebung kommen. Aber alle Menschen starren jetzt auf den 9. Mai, dem Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Die russische Propaganda verbreitet Gerüchte, wonach die Angreifer beabsichtigten, bis zur traditionellen Siegesparade die Großstadt Mariupol im Südosten des Landes und den gesamten Donbass zu erobern – um sich dann wieder Kiew zuzuwenden.
Die Warnungen der Behörden halten die Menschen nicht davon ab, in Scharen zurückzukommen. Jeder hat dafür seine eigenen Gründe. „Jetzt ist es hier doch ruhig“, sagt Irina. Sie arbeitet als Friseurin in einem Schönheitssalon. Irina ist um die 30 Jahre alt, spindeldürr, ihr Haar schillert in braunen und roten Tönen. Seit einer Woche ist die junge Frau wieder hier und versteht nicht, warum die Stadtverwaltung so sehr auf die Bremse tritt.
„Als unser Salon wieder geöffnet wurde, bin ich sofort gekommen. Sehen Sie doch selbst. Wir müssen die Wirtschaft des Landes wieder ankurbeln. Die Menschen müssen doch ihren Lebensunterhalt verdienen, die Kosten für die Wohnung laufen ja weiter“, sagt Irina. Sie selbst habe nach ihrer Flucht die Miete nicht nur in Kiew weiter zahlen müssen, sondern auch in der Industriestadt Chmelnitzki, wo sie vorübergehend untergekommen war.
Irina, Angestellte in einem Schönheitssalon
Jetzt ist Irina glücklich, wieder in Kiew zu sein, die Freude steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie erinnert sich an die Stadt in den ersten zwei Wochen nach dem Beginn des Krieges. Wie ausgestorben sei Kiew da gewesen. „Natürlich ist jetzt nicht alles so wie vor dem Krieg, aber ich sehe Menschen in Cafés sitzen, Staus auf den Straßen, und es scheint, als wäre alles vorbei“, sagt Irina und hält einen Moment inne. „Na ja, viele Kunden*innen haben wir noch nicht und von den Mitarbeiter*innen sind auch noch nicht alle wieder aufgetaucht.“ In der Tat: In dem beliebten Salon herrscht gähnende Leere. Ein neuer Haarschnitt sei jetzt eben doch nicht das Wichtigste. „Die Menschen haben andere Sorgen, das ist klar“, sagt sie.
In Kiew gilt immer noch eine Sperrstunde, von 21 Uhr bis um 6 Uhr morgens. Der Salon hat seine Öffnungszeiten entsprechend angepasst. „Jetzt machen wir um 18 Uhr zu, um noch die letzte U-Bahn zu erreichen“, sagt Irina und fügt mit einem Lächeln hinzu, was sie daran erinnert, dass immer noch Kriegsrecht herrscht. „Hauptsache, einschlafen, bevor die Sirenen anfangen zu heulen. Wer das nicht hinbekommt, ist selber schuld.“
Trotz zahlreicher Warnungen haben sich die meisten Menschen an das Heulen der Sirenen gewöhnt und begeben sich erst gar nicht mehr in die Notunterkünfte. Und doch machen die lauten Geräusche den Kiewern weiterhin Angst. Irinas Kollegin Swetlana ist 28 Jahre alt, Kosmetikerin und hat vor Kurzem ein Kind zur Welt gebracht. Swetlanas Mutter und ihr Baby befinden sich an einem sicheren Ort außerhalb der Stadt. Swetlana hatte lange in der Hautstadt ausgeharrt, doch als die Kämpfe in den Vororten Butscha und Irpin immer heftiger wurden, ist auch sie geflüchtet. Seit Kurzem ist sie wieder in Kiew.
Als sie hörte, dass sich die russischen Besatzer zurückgezogen hatten, habe sie sich sofort auf den Weg gemacht. „Ich konnte nicht mehr einfach nur herumsitzen, ohne etwas zu tun. Und in den eigenen vier Wänden ist es leichter, auf unseren Sieg zu warten“, sagt sie.
Doch die Erinnerung an die Raketeneinschläge hat sich bei ihr eingebrannt. „Ich war in meiner Küche und hörte draußen ein lautes Knallen. Sofort dachte ich, die Bombardierungen hätten wieder angefangen“, erzählt sie. Als sie dann jedoch aus dem Fenster geschaut habe, habe sie gesehen, dass ein Nachbar im Hof einen Teppich ausklopfte. „Wir sind alle traumatisiert“, sagt sie, und es klingt bitter.
Die Odyssee der geflüchteten Olesja
Unter den Rückkehrer*innen sind auch viele, die keine halbwegs erträgliche Unterkunft gefunden oder das wochenlange Leben in einer Notunterkunft einfach satt hatten. Olesja – sie hat die 40 überschritten – macht einen entschlossenen Eindruck. Aber sie wirkt von dem ewigen Herumfahren auf der Suche nach einem sicheren Ort mitgenommen und erschöpft. Dann erzählt sie von ihrer Odyssee. Mit zwei kleinen Kindern sei sie zuerst zu den Eltern ihres Mannes in die Kleinstadt Makarow im Großraum Kiew geflüchtet. Als russische Truppen den dortigen Militärflughafen unter Beschuss nahmen, entschied sie sich zur Reise in den Westen der Ukraine. Gemeinsam mit einer Frau und deren drei Kindern fanden sie Aufnahme bei hilfsbereiten Menschen.
„Alles war in Ordnung, wir haben uns sehr gut verstanden.“ Aber nach einigen Wochen sei es zu Spannungen gekommen. „Wir fingen an, ihnen auf die Nerven zu gehen. So viele Kinder und ständig Lärm. Sie hatten wohl nicht gedacht, dass wir so lange bleiben würden. Ich bin ihnen für alles sehr dankbar, aber bei der erstbesten Gelegenheit sind wir fortgegangen“, erzählt sie.
Weil aber ihr erster Fluchtort Makarow zu diesem Zeitpunkt schwer beschädigt war, konnte Olesja nicht dorthin zurückkehren. Derzeit lebt sie bei Verwandten auf einer Datscha bei Kiew und schmiedet Pläne, wie sie so schnell wie möglich wieder nach Hause kommt. Ihren Job als Online-Händlerin für Kinderkleidung hat sie verloren. Wie es jetzt weitergehen soll – sie weiß es nicht.
Die PR-Managerin Katerina fürchtet sich vor einer dauerhaften Vertreibung. „Als ich nach dem Ausbruch des Krieges Kiew verlassen habe, hatte ich große Befürchtungen, dass es für immer sein würde. Mein Mann kommt aus Georgien, aus den russisch besetzten Gebieten. Er hat mir davon erzählt, wie seine Familie ihr Haus verlassen musste in der Hoffnung, nach wenigen Tagen wieder zurückkehren zu können“, erzählt Katerina.
Dieses „für immer“ und die damit verbundene Panik seien stärker gewesen als die Angst vor dem Krieg. „In diesem Moment habe ich begriffen, dass ich nur in der Ukraine leben und arbeiten will“, gesteht Katerina ein. Sie ist erst vor ein paar Tagen nach Kiew zurückgekommen. „Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie dankbar ich unseren Verteidigern bin. Mein ‚für immer‘ ist mir erspart geblieben, dank ihnen. Sie haben mir mein Leben zurückgegeben“, sagt sie. Doch dieser Krieg sei noch lange nicht vorbei.
Rückkehr für ein paar Tage
Wohl auch deshalb gibt es viele Menschen, die nur für ein paar Tage zurückkehren. „Ich habe mich so nach meinem Mann und nach unseren Haustieren gesehnt“, sagt zum Beispiel Olena. Sie will sich nur ein paar Sommersachen holen, dann aber sofort wieder an einen sicheren Ort fahren, wo ihre Kinder auf sie warten. Sie schließt nicht aus, dass die russischen Truppen erneut versuchen werden, Kiew einzunehmen.
Auch die Psychologin Irina traut dem brüchigen Frieden nicht. Sie ist gekommen, um in ihrer Wohnung nach dem Rechten zu sehen und sich ein Bild von der Situation zu machen. „Einerseits reden alle davon, dass man wieder zurückkommen kann. Andererseits sind der Luftalarm und die Raketenangriffe der vergangenen Tage auf verschiedene Stadtteile doch ein Anzeichen dafür, dass es dafür noch zu früh ist. Das alles ist noch lange nicht zu Ende“, sagt Irina.
Welche Pläne die russische Führung hat, ist nicht voraussagbar. Da der erste Anlauf zur Eroberung von Kiew keiner nachvollziehbaren Logik folgte, wird ein zweiter Versuch für umso wahrscheinlicher gehalten – auch wenn sich der Großraum Kiew in eine regelrechte Militärfestung verwandelt hat.
Die Skepsis des Präsidenten
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski glaubt nicht, dass die russischen Invasoren im Kampf um Kiew wirklich besiegt sind. „Ich denke, das ist ein Sieg, aber kein endgültiger. Und ich bezweifle, dass er der letzte ist. Noch können wir nicht sagen, dass wir die Schlacht um Kiew gewonnen haben“, sagt er in einer Videobotschaft. Selenski versucht Optimismus zu verbreiten, doch die Ringe unter seinen Augen werden jeden Tag tiefer.
Nach Angaben des Leiters der Militärverwaltung der Stadt Kiew, Nikolai Schirnow, gebe es immer noch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Besatzer die militärische und zivile Infrastruktur in Kiew wieder mit Raketen angreifen. Dem sei die Ukraine jedoch gewachsen, heißt es aus der Stadtverwaltung. Es gebe effektive Systeme zur Luftabwehr, die die Ukraine vor allem von ihren westlichen Partnern erhalten habe. Aus den Erfahrungen während des ersten Angriffs habe man gelernt.
„Obwohl die Angriffe auf Kiew wieder angefangen haben, muss uns der Sieg der ukrainischen Armee im ersten Kampf um unsere Hauptstadt doch zuversichtlich stimmen“, sagt der 25-jährige Pjotr, der nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 nach Kiew gezogen ist. Der junge Mann ist sich sicher: Solange Russland seinen tödlichen Klammergriff um die Ukraine nicht löse, werde der Krieg weitergehen. „Der Frühling ist gekommen, alles beginnt zu blühen. Unser Land muss sich endlich von der Aggression der Besatzer befreien, um seinen europäischen Weg fortzusetzen. Ich möchte endlich frei und friedlich in meinem Land leben“, sagt er und fügt hinzu: „Aber bevor nicht der letzte russische Soldat das Territorium der Ukraine verlassen hat, wird dies nicht möglich sein und es werden weiter Raketen nach Kiew fliegen.“
Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
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