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Rückblick auf eine vergangene Zukunft

Peter Zadek inszeniert Tschechows „Kirschgarten“ am Wiener Akademietheater  ■ Von Sigrid Löffler

Mal duzen sie sich, mal fallen sie ins Siezen zurück. Selbstverständlich sind sie Klassengegner: Trofimow, der Hauslehrer, und Lopachin, der Geschäftemacher, der Sohn des Kleinbürgertums und der Sohn des Landproletariats. Aber gemeinsam sind sie die Zukunftsmenschen in Tschechows Vergangenheitskomödie „Der Kirschgarten“: der idealistische Sozialträumer und der vulgäre Kapitalist. Sie begegnen einander mit Mißtrauen und Argwohn: Offene Geringschätzung wechselt mit verstohlener Anerkennung. Der eine verspottet den andern als verbummelten Studenten – als Intellektuellen ohne Tatkraft. Der andere revanchiert sich mit Verachtung für den Herumfuchtler und Geldmenschen – den Macher ohne Geist.

Nicht so sehr die Herkunft trennt sie („Dein Vater war Bauer, meiner war Apotheker, na und?“) als vielmehr das Lebensgefühl: Der Nichtstuer empfindet sich utopisch erfüllt – als die Avantgarde einer besseren Zukunft; der Macher fühlt sich heimlich leer – seine Betriebsamkeit ist ohne lohnende Utopie. „Wir tragen voreinander die Nasen hoch in der Luft, aber das Leben vergeht und vergeht.“ Am Ende umarmen sie einander vorsichtig – eine unsichere Allianz für den Fortschritt, von dem wir aus dem Abstand eines Jahrhunderts wissen, wohin er fortgeschritten ist (was Tschechow an der Schwelle des 20. Jahrhunderts nur ahnen konnte). Der Idealist und der Macher, der Politträumer und Zukunftsschwärmer und der Aufkäufer, Parzellierer und Profiteur: gemeinsam haben sie das Jahrhundert zurechtdemoliert. Aber das Leben vergeht und vergeht.

Peter Zadeks Wiener „Kirschgarten“ – sein dritter Versuch mit diesem Jahrhundertstück – steht ganz im Zeichen heiterer Wehmut, der weise gebrochenen Melancholie des Rückblicks auf eine Zukunft, die bereits vergangen ist. Es ist, für Zadeks Temperament und Arbeitsbiographie, eine ungewöhnlich zärtliche, behutsame Tschechow-Inszenierung geworden, imprägniert mit Zuneigung für die in nobler Untüchtigkeit vergehende und verwehende Adelskaste, als deren Symbol der nutzlos schöne Kirschgarten steht und fällt. Zadeks Tschechow ist eine schmerzliche Meditation über die Vergänglichkeit und zugleich ein Nachruf auf ein Jahrhundert. Daß er so milde und elegisch ausfällt, liegt in der Natur von Nachrufen. Man hofft die längste Zeit auf eine Prise des Zadekschen Zynismus. Man hofft vergebens.

Verglichen mit Zadeks inständigem Gefühlsernst war der Salzburger „Kirschgarten“ seines ewigen Antipoden Peter Stein letzten Sommer ein geradezu sarkastischer Kommentar zu Tschechow. Zadek macht, was Robert Musil „Symptomen-Theater“ nannte. Er gibt seinen Schauspielern – von Winkler bis Mattes, von Wildgruber bis Bierbichler, von Düringer bis Lause wie dem Theater-Gotha des Mimenadels entstiegen – jede Gelegenheit, ein vehementes Scheinleben auf der Bühne zu entfalten. Sie dürfen sich gebärden, schluchzen, schreien, in die russischen Gestalten hinein- und aus ihrem bürgerlichen Ich herausfahren. Zadek erlaubt ihnen Auftritte und Ausbrüche, Ergriffenheiten und Ergreifungen, kurz: Appelle ans Gemüt des Zuschauers (vielmehr an das, was im Zuschauer als Vorstellung von Gemüt bereitliegt).

Bei Peter Stein war stets auch eine heimlich distanzierende Ironie spürbar, die diese herzzerreißende, aber nobel gefaßte Untergangskantate durchwirkte. Immer ließ er einen inneren Abstand, einen mentalen Vorbehalt mitschwingen zur Schmerzenspartitur der Klagegesten und Kummertöne, die er vorführte (und aufführte). Das schöne Lamento der abdankenden Herrenschicht mit ihren tapfer verschluckten Tränen und edel gerungenen Händen war immer zugleich auch Theater. Schmiere vom Feinsten. Die Gutsherrin Ranjewskaja, ihr Bruder Gajew und ihre ganze nichtsnutzige Klasse wurden von Stein immer auch vorgeführt als alte Komödianten, als Theatermacher. Sie waren Theatraliker des Unglücks, routinierte Pathetiker des schönen Untergangs, die ihren Ruin durchaus zelebrierten und sogar genossen als anmutiges Katastrophentheater, das sie mit allen virtuosen Finessen auskosteten. Die Regie fächelte eine mokante Kühle über all die vorgezeigte Morbidezza.

Solche Virtuositäten sind nicht nach Zadeks Geschmack. Sein „Kirschgarten“ ist nüchterner – in der betont kärglichen Ausstattung durch Karl Kneidl nähert er sich fast schon der Arte povera. Er ist direkter, auch einfältiger. Zadeks Liebe zu den Tschechow-Menschen ist ohne Vorbehalt. Nichts Opakes haftet ihr an. Er verkleinert den Maßstab. Er und sein Bühnenbildner bannen die Figuren ins Kinderzimmer, in eine Puppenstube mit Puppenmöbeln und einem nur flüchtig aufgemalten Kirschbaumprospekt vor dem Fenster. In diesem schäbigen Milieu ist der einstige Glanz und Reichtum der Herrenklasse kaum mehr zu ahnen. Diese Schäbigkeit nimmt deren Absturz viel von seiner Tragik. Nicht ausgeschlossen, daß Lopachins Datscha-Kolonie auf dem Gelände des abgeholzten Kirschgartens besser möbliert sein wird.

Zadek verkleinert und verengt das Stück. Innerhalb seiner festgelegten Erzählstrategien macht er aber durchaus sehenswerte Entdeckungen mit seinen Figuren. Kaum je hat man eine Ranjewskaja von derart unschuldiger Haltlosigkeit gesehen. Angela Winkler regrediert mit ihrer Figur in kindlichste Kleinmädchenhaftigkeit: Sie leistet sich den Diener Jascha (schön dummdreist: Marcus Bluhm) offen als Betthengst, aber erflirtet durch Hilflosigkeit bei jedem Mann in Reichweite den Beschützerinstinkt. Sepp Bierbichler als Lopachin und Sylvester Groth als Trofimow erliegen beide ihrem Charme – aber nur fast. Ungleichere Geschwister als Winklers fahriger Kindskopf Ljubow und Ulrich Wildgrubers rosig-feistes Gajet-Ungetüm sind kaum denkbar.

Eine kurze Umarmung der Geschwister zum Abschied, ein Stöhnen, ein Schluchzen. Vorbei. Besitzerwechsel, Zeitenwechsel. Das Leben vergeht und vergeht. Aber es geht auch weiter.

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