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Rotes Rathaus: Mahnwache beendet

■ Protest gegen Bildungs- und Sozialklau dauerte 66 Tage

„Mahnwache, Alexanderplatz Null“ hat sich als Postadresse eingebürgert. Die „Bewohner“ sitzen gerade beim Frühstück, ausnahmsweise nicht unter der Regenplane, sondern in der Sonne.

Die Studenten Thomas und Matthias haben vor dem Roten Rathaus die Nacht verbracht. „Alexanderplatz Null“ ist ein offener und gastfreundlicher Ort: „Hier halten sich alle auf, die vom Sozialabbau betroffen sind und sich am Protest beteiligen möchten“, erklärt Martina, Romanistikstudentin an der Humboldt-Universität (HU).

66 Tage lang wurden der Infotisch und die zahlreichen Transparente rund um die Uhr bewacht. Die Hochschulen wechselten sich wochenweise ab. Die Zahl der MahnwächterInnen schwankte in dieser Zeit zwischen eins und zehn. Abends allerdings wurden es auch mal fünfzig, die sich da zu Spontanfeten zusammenfanden.

„Vor dem Rathaus haben die uns zumindest so weit wahrgenommen, daß wir sie gestört haben“, erzählt Claudia. Irgendwann seien sie schließlich aufgefordert worden, auf die gegenüberliegende Straßenseite umzuziehen. Dort durften sie unbefristet bleiben, vorausgesetzt, es war immer ein Ansprechpartner vor Ort. Claudia schob unverdrossen ihre Schicht – seit sechs Wochen immer mittwochs. Und das, obwohl die Technische Fachhochschule, wo sie Vermessungstechnik studiert, schon Semesterferien hat. „Es ist eine Form von Protest und besser, als zu Hause zu bleiben, allemal“, sagt Claudia. Sie vermutet, daß die Proteste der Studierenden sogar die Entscheidung der Hochschulrektoren gegen Studiengebühren beeinflußt haben: „Die haben Angst gekriegt, weil die Berliner es mit ihren 100 Mark schon nicht hinkriegen.“

Gegen die Studiengebühren trommelte am Vortag auch Matthias, so daß seine Hände nun voller Blasen sind. Für ihn war „Alexanderplatz Null“ sein Zuhause. Darum weiß er auch, daß der erste Brief an diese Adresse aus Köln kam: „Inzwischen ist es ein halber Umzugskarton voll Post. Ein Lebensmittelpaket war auch dabei.“ Lebensmittel und Geschirr auf dem Platz waren dem Ordnungsamt lange ein Dorn im Auge. „Die haben uns darauf hingewiesen, daß es das ökologische Bewußtsein der Berliner stört“, berichtet Martina. Obwohl es oft kühl und regnerisch war, waren auch Isomatten und die Regenplane zunächst verboten worden. Inzwischen allerdings habe sich das Verhältnis zu den Polizisten sehr gut entwickelt. „Die meisten drücken zwei Augen zu“, sagt Claudia. Als Matthias eines nachts allein und frierend unter der Plane lag, haben ihm zwei Nachtstreifen sogar eine Decke vorbeigebracht.

Auch die Geschäftsbesitzer und Anwohner rund um den Alex besuchten die Mahnwache und brachten Tee, Kaffee, Nudelsalat und Kuchen. „Die Solidarität aus der Bevölkerung, die vielen Gespräche und die Post von überall – das war schon toll.“

„Die Politiker haben uns allerdings einfach übersehen, so wie die alles übersehen“, ergänzt Claudia. Ab heute gibt es vor dem Rathaus allerdings nichts mehr zu übersehen. Der Postbote wird vergeblich nach „Alexanderplatz Null“ suchen. Die Mahnwache ist mit Beginn der Semesterferien an den drei großen Universitäten beendet. Stephanie v. Oppen

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