Rote Fahnen gestern, heute und morgen: Revolution und Rückzug
Red Flags gibt es inzwischen in Massen. Früher standen sie für Hoffnung, heute sind sie eher Warnsymbol. Wichtig bleibt, das richtige Lied zu singen.
D as erste Mal, dass mir das Konzept der Roten Fahne erläutert wurde, war, als die Mauer fiel. Nicht etwa wegen Perestroika oder Glasnost und auch nicht wegen der hupenden Trabbis, die wenige Meter von unserer Kreuzberger Wohnung entfernt über die Grenze fuhren; und ganz bestimmt nicht wegen der Massen an Menschen, die mit Hammer und Meißel bewaffnet vor meinem Kinderzimmerfenster standen und sich die letzten Reste der Mauer sicherten. All das realisierte ich zwar, aber verstand es natürlich nicht.
Und genauso wenig verstand ich die Szene dieses Charlie-Chaplin-Films, den ich zur gleichen Zeit schauen durfte: Chaplin läuft durch das Hafenviertel einer typisch amerikanischen Arbeiterstadt während der Weltwirtschaftskrise. Eine rote Warnflagge fällt von der Ladefläche eines Lastwagens, der grundehrliche Tramp hebt sie auf und rennt, die Fahne wild schwenkend hinter dem LKW her, um die Flagge ihrem rechtmäßigen Besitzer zu übergeben.
Die streikende Arbeiterschaft erkennt in Chaplin daraufhin einen potenziellen Revolutionsführer, folgt ihm randalierend durch die Straßen, und der Mann mit der Melone und dem Spazierstock wird als Aufwiegler festgenommen und ins Gefängnis verfrachtet. Es dauerte einige Zeit und viele historische Exkurse meines Vaters, bis ich in diesem jungen Alter verstand, warum alle um mich herum bei dieser Szene so herzhaft lachten.
Seitdem ist viel passiert. Mit mir und mit der roten Fahne. Ursprünglich angelehnt an die roten Mützen der Jakobiner während der französischen Revolution, hat es die Fahne im 20. Jahrhundert zu einer gewissen Allgemeingültigkeit geschafft. Ob in der Formel 1 als Signal für die Rennunterbrechung, als Badeverbotszeichen an den Stränden der Weltmeere und natürlich als vergöttertes Symbol der revolutionären Linken.
Tagtäglicher Sprachgebrauch
Doch mittlerweile hat die sogenannte „Red Flag“ auch noch eine ganz andere Ebene bekommen. Sie ist längst in den tagtäglichen Sprachgebrauch der Millennials und Gen Z eingeflossen und gilt als Warnzeichen, die man etwa beim Dating und auch in einer Beziehung auf keinen Fall ignorieren sollte. Ein einseitiges Gespräch beim ersten Treffen etwa deutet auf Egoismus hin. Red Flag. Extreme Eifersucht in der Beziehung? Eindeutige Red Flag.
Nicht nur auf dem Kurznachrichtendienst Twitter wird dieser Begriff mittlerweile – teils ironisch, teils ernst gemeint – ins Endlose ausgedehnt und angewandt. Es ist quasi ein Sport geworden, Red Flags zu ermitteln.
Beim Candle Light Dinner will sie über Bitcoins reden? Red Flag! Er gibt sich als Erneuerer der CDU, dabei ist er ein verkalktes Fossil, das bereits 1997 gegen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe stimmte? Uuuuh, you better run! Beim Abendessen erzählt er dir, dass er das neue Buch von Sahra Wagenknecht nur gelesen habe, um dem „verengten Meinungskorridor in unserem Land zu entfliehen“? Nix wie weg.
Deine neue Flamme ist ‚linker‘ Journalist und schreibt gerade einen konservativen Langweilertext (der von Franz Josef Wagner verfasst niemanden hinter dem Ofen hervorlocken würde), um seinen Übertritt zur Springer-Presse vorzubereiten? Reeed Flaaaag!
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Es gibt Unmassen an Red Flags, na klar. Aber manchmal ist man vielleicht auch einfach selber das Problem. Vielleicht sollte man seine eigenen Muster und Gewohnheiten hinterfragen, wenn man dazu neigt, sich ständig mit jedem um sich herum zu streiten und in allem toxisches Verhalten zu erkennen. Nicht, dass es davon nicht viel zu viel geben würde oder es keine Errungenschaft wäre, dass wir endlich über Warnzeichen reden.
Aber um es auf den Punkt zu bringen: Own your Bullshit! Speak out! Und vor allem: „Avanti o popolo, alla riscossa / Bandiera rossa, bandiera rossa!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen