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Rot schmiegt sich an schwarz

■ In der Frankfurter Schirn wird die erste sowjetische Kandinsky-Retrospektive gezeigt

Soll doch der Pinsel selbst bestimmen, welche Farbe er nimmt. Sollen die Farben selber bestimmen, welche von ihnen der Pinsel von der Palette holt.“ Wer Kandinskys Worte ernst nimmt, läßt sich täuschen. Seit 1981 die Tret'jakov Galerie die Farbschichten von Kandinskys Bildern untersuchte, ist bekannt, daß Kandinsky seinen Bildern eine Bleistiftskizze zugrunde legte. Obwohl Kandinsky uns glauben machen wollte, seine Werke seien spontan und ohne Planung entstanden, ist die Nachwelt nun um eine Erfahrung reicher. Dem gleichen Verfahren unterliegen - wider Erwarten - auch seine abstrakten Bilder. Erst die Vorzeichnungen, dann eine dünne Grundierung der Leinwand - danach konturierte Kandinsky einzelne Formen mit dunkelblauer Farbe. Auf einer so präparierten Leinwand entstanden seine Bilder.

So kann der Besucher der Ausstellung ein kleines Aquarell von 1911/13 (die Datierung ist nach wie vor umstritten) neu auf sich wirken lassen: Kreise, Punkte, dünne und dicke Pinselstriche sind auf dem Bild verteilt. Unterschiedlich große Farbenflecken spielen miteinander, stoßen sich ab, zerfließen ineinander. Grün steht neben Rot, die beiden Farben vertragen sich nicht. Das verdrängte Rot schmiegt sich an Schwarz. Durch die Farbgebung werden ruhige und bewegte Zonen im Bild geschaffen. Spitze und weiche Formen tauchen auf, jede Form ist dabei einmalig. Wie die Farben, so werden auch die Formen bewußt einer Zuordnung entzogen. Parallelen werden ängstlich vermieden. Man sucht vergeblich nach einem Fixpunkt im Bild, das keine Grenzen zu kennen scheint und doch seinen Rahmen nicht sprengen will: Es handelt sich um das Erste abstrakte Bild Kandinskys.

Schon vor seiner Bauhauszeit zeigt Kandinsky also eine Neigung zur Abstraktion. In den ersten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts malt Kandinsky sowohl abstrakt als auch gegenständlich. Im wesentlichen gibt es drei Themenkomplexe: naturalistische Landschaftsimpressionen, kriegerische Motive - Kampfszenen, einstürzende Türme, flüchtende Reiter - und die Sagenwelt des Mittelalters. Leuchtende expressive Farben betonen das Dargestellte. Sie sind in breiten Pinselstrichen großzügig nebeneinander gesetzt. Figuren und andere Elemente werden auf diesen Bildern schemenhaft angedeutet und sind nicht immer eindeutig zu erkennen. Die Entschlüsselung der Bilder bleibt der Phantasie des Betrachters überlassen. Kandinsky will sich nicht auf eine eindeutige Aussage festlegen.

1914 entsteht das Bild Improvisation mit kalten Formen, vorwiegend aus den von Kandinsky so geschätzten Rot-, Blau und Gelbtönen. Man meint, einzelne Gegenstände auf einer Weltkugel auszumachen und wird sich doch im nächsten Augenblick der Mehrdeutigkeit des Gemalten bewußt.

Ähnlich offen sind auch die halbabstrakten und abstrakten Kompositionen. Werden in den Kompositionen die Farbtöne Musiktönen gleichgestellt, dann läßt sich ein solches Bild musikalisch interpretieren. Auf den Improvisationen und Kompositionen liegt der Schwerpunkt der Ausstellung.

Kandinskys Spätwerke sind im letzten Raum zu besichtigen. Bis zur Machtübernahme durch die Nazis gehörte Kandinsky dem Bauhaus an, dessen Einfluß in seinen späten Bildern nicht zu leugnen ist. Die Farbwirkung wird zugunsten einer strengen Linie zurückgenommen. Geometrische Formen beherrschen nun die Bildfläche. Kreise werden zu einem Lieblingsmotiv Kandinskys. Sie werden überdeutlich konturiert.

Elisabeth Kenter

Zeichnungen, Aqarelle, Hinterglasbilder und Ölgemälde Kandinskys sind noch bis zum 20.8.89 zu besichtigen. Der Katalog ist für 38 DM zu haben.

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