Romasiedlung in Belgrad bedroht: Leben zwischen Ratten und Müll
Unweit des Zentrums der serbischen Hauptstadt Belgrad leben rund 2.000 Roma unter menschenunwürdigen Bedingungen. Jetzt droht der Abriss ihrer Hütten.
BELGRAD taz | Auf den ersten Blick ist es ein riesiger Müllhaufen. Man wundert sich, warum das wilde, stinkende Abfalldepot knappe einhundert Meter vom modernen Belgrader Kongresszentrum Sava und den Luxushotels Continental und Hyatt Regency nicht geräumt wird. Erst bei genauerem Hinsehen sind die Umrisse von Baracken zu erkennen, errichtet mit dem gleichen Material, das überall herumliegt - Kartons, Aluminium, Holzbretter, Plastik, Berge von Papier und Flaschen.
Rund 350 Buden befinden sich auf einer Fläche von einem halben Quadratkilometer in der "Kartonsiedlung" in der serbischen Hauptstadt. Hier leben rund 2.000 Menschen. Die Eingangstür einer der Hütten ist eine ehemalige Duschkabine, in eine andere kommt man durch eine Lkw-Tür hinein. Die Häuser sind niedrig, Fenster gibt es oft keine. Dächer sind mit Autoreifen oder Steinen beschwert, damit sie bei starkem Wind nicht weggeweht werden.
Die Roma-Siedlung befindet sich unter der "Gazelle". So heißt die Autobahnbrücke über den Fluss Sava. Die Autobahn verbindet Südosteuropa mit dem Westen. Nur fünf Minuten vom Stadtzentrum entfernt bietet sich ein apokalyptisches Bild: oben die gewaltige Brücke, das laute Brummen des Verkehrs, unten ein unebener Erdweg, der an der Kartonsiedlung entlangführt. Eine junge Frau geht mit einem kleinen Jungen vorbei, der sich einen blutbefleckten weißen Strumpf an seinen verletzten Kopf hält.
Die Familie Ferizovic lebt am Rande der Siedlung, "da unten, bei den Schienen, neben einem Trafo". Sanja kommt mit Kanistern voller Trinkwasser. "Serbische Nachbarn geben uns Wasser", sagt sie. Die Siedlung hat weder eine Wasserleitung noch Kanalisation und elektrischen Strom. Der wird bei der Straßenbeleuchtung oder den Billboards abgezapft. Sanja ist siebzehn. Sie hat einen zweijährigen Sohn. Ihr jüngeres Kind ist kürzlich gestorben. "Viele Babys sterben", erzählt sie. Die Lebensbedingungen in der Siedlung sind hart. Im Winter ist es klirrend kalt, im Sommer unerträglich heiß. Ratten, groß wie kleine Hunde, machen den Menschen zu schaffen. Sozialhilfe wird nur unregelmäßig gezahlt. Hustensirup kostet siebenhundert Dinar (rund 8 Euro) - für die Menschen hier ein kleines Vermögen.
Sanjas Mutter Gordana lebt seit achtzehn Jahren in der Kartonsiedlung. Nur etwa ein Drittel der Kinder geht in die Schule, sagt sie. Die anderen werden von ihren Eltern betteln geschickt. Rund siebzig Prozent der Bewohner der Siedlung sind nicht in Belgrad gemeldet, es sind Flüchtlinge aus Kroatien, Bosnien und aus dem Kosovo. Seit Jahren haben sie keine Hilfe vom Staat bekommen. Ein weiteres Problem ist, dass es in der Siedlung keine Vertreter gibt, die im Namen aller mit den Behörden verhandeln könnten.
An Beschimpfungen sind die Roma gewöhnt, Flüche wie "schmutzige, faule Zigeuner" gehören zum Alltag. "Hauptsache, sie verprügeln uns nicht", sagt ein Zwanzigjähriger. Manchmal wird die Siedlung mit Flaschen von der Brücke beworfen. "Die meisten Serben sind aber völlig in Ordnung", sagt Gordana.
Unter den Kartonsiedlern herrscht Panik, dass sie schon im Sommer mit Gewalt umgesiedelt werden, weil die Brücke repariert werden muss. Dann kommen die Bagger und reißen die Häuser ab, wie es vor wenigen Wochen in einer anderen Roma-Siedlung geschehen ist. Der Versuch der Stadtbehörden, Roma aus "unhygienischen" Kolonien an einem anderen Ort anzusiedeln, ist bisher stets an Protesten der Einheimischen gescheitert. Niemand wollte die Roma als Nachbarn haben.
Offiziell leben in Serbien an die 100.000 Roma, inoffiziell dürften es aber über eine halbe Million sein. Etwa 125 Siedlungen sind registriert, davon sind 44 "unhygienisch" - wie die Belgrader Kartonsiedlung. Die meisten Roma sammeln und verkaufen wiederverwertbaren Abfall, putzen Windschutzscheiben oder betteln. Der Staat hat weder eine Strategie noch Geld für die Lösung der Roma-Frage. Und die Roma kommen aus dem Teufelskreis der Armut nicht heraus: Sie bekommen keine Arbeit, weil sie nicht ausgebildet sind, und Bildung haben sie keine, weil sie sich das nicht leisten können.
Sanja will ihren Gabriel in die Grundschule schicken, damit er lesen und schreiben lernt. "Vielleicht wird er einen anständigen Job bekommen", sagt sie.
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