„Romantische Zonen“ in Italien: Das entfremdete Küssen
In Italien fordern Schilder Besucher*innen zum küssen auf. Das erinnert unseren Autor an den ersten Kuss – und die Politik der Gefühle dahinter.
Ich erinnere mich noch an meinen ersten Kuss. Es war wunderschön – und ziemlich schrecklich. Es war im Sommer, an einem Seeufer. Ich musste mich krass überwinden, mit meinen Lippen die des Mädchens zu berühren – abgesehen davon, dass ich mich nie getraut hätte, wenn sie nicht den „ersten Schritt“ gemacht hätte.
Und dann, so weltverändernd der Kuss sich auch anfühlte, kam zur Schüchternheit noch was anderes hinzu: Scham. Ein Gefühl, das einen Kurzschluss zwischen Ich und Welt erzeugt und laut der queerfeministischen Autorin Eve Sedgwick von Theatralität durchdrungen ist.
Mein 14-jähriges Selbst, kolonisiert von Medienbildern, fühlte sich wie ein Schauspieler in einem Film, beobachtet von hungrigen Augen, die auf nichts anderes gewartet haben – fehlte nur der Applaus. Jahre später fragte ich mich, ob es nicht möglich sei, solche oft heteronormativen Klischees loszuwerden?
Daran, wie peinlich ich weniger den Kuss selbst als die empfundene Peinlichkeit empfand, musste ich denken, als ich im Guardian las, Italien habe an visuell attraktiven Orten im ganzen Land „romantische Zonen“ eingerichtet, mit Schildern, auf denen „Obbligatorio baciarsi“ steht: „Küssen ist Pflicht“.
Wider die Idylle einer präkapitalistischen Welt
Klingt, als sei meine damalige Ahnung, in einem Film zu leben, Wirklichkeit geworden. Zudem passt PDA (öffentliche Darstellung von Zuneigung) einfach ziemlich gut ins Zeitalter der Selbstdarstellung. Zurück zu der Frage: Ist ein echter Kuss möglich? Ich glaube nicht.
Ich lebe in einer Welt, in der alles fabriziert ist. Selbst der Wind in den Bäumen ist Effekt des Klimas, das wiederum Konsequenz des humanen Daseins … ihr wisst schon. Auch Liebe war nie was anderes: eine Komposition aus popkulturellen Versatzstücken, eine Prise Zuneigung und eine große Portion Marketingnarrativ. Wird mit den Schildern nun auch der letzte Rest zwischenmenschlicher Ambivalenz herausgequetscht wie aus einer leeren Zahnpastatube?
Womöglich. Ist das schlimm? Nur für die, die weiterhin an authentische Liebe und die pastorale Idylle einer präkapitalistischen Welt glauben. Die anderen könnten es als Erinnerung an die Gemachtheit des Lebens betrachten – und damit auch daran, es verändern zu können. Ein Kurzschluss zwischen Ich und Welt.
Wie heißt es im xenofeministischen Manifest? „Wenn die Natur ungerecht ist, müssen wir eben die Natur verändern.“
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