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Roman von Maylis de KerangalGanz nah an der Realität

In „Weiter nach Osten“ versucht ein russischer Rekrut dem Militärdienst zu entgehen. Eine Erzählung aus der Transsibirischen Eisenbahn.

Die transsibirische Eisenbahn durchschneidet die endlose russische Landschaft Foto: imago

Maylis de Kerangal ist in Toulon geboren und in Le Havre aufgewachsen, das waren bereits zwei Ansichten vom Meer. Und dass der Vater als Kapitän auf hoher See fuhr, scheint sich auch in ihren literarischen Texten niederzuschlagen. Die Sujets dieser Autorin können genauso gut in Frankreich wie in Lateinamerika oder Kanada spielen.

Sie hat früh die Auswirkungen der Globalisierung thematisiert, das migrantische Leben in Frankreich, etwa an der Corniche Kennedy in Marseille, in das Zentrum von Romanen gestellt und aus der Karibik stammende Fußballer als große Chance erkannt. In ihrem Heimatland gilt sie längst als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen, und langsam wird sie auch hierzulande entdeckt.

Ihr jetzt ins Deutsche übersetzter Roman „Tangente vers l’est“ ist im Original bereits 2012 erschienen. Er mutet aber äußerst aktuell an, denn er nimmt die zeitgenössischen russischen Verhältnisse in den Blick – noch vor der russischen Besetzung der Krim und dem Krieg gegen die Ukraine, aber umso prägnanter.

„Weiter nach Osten“ ist von der Form her eher eine äußerst konzentrierte, längere Erzählung. Ort und Zeit sind sehr genau umrissen, und der Text bleibt immer ganz nah an dem, was gerade passiert. Es geht um eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn, aber ohne jeglichen touristischen Aspekt. Im Mittelpunkt steht der Rekrut Aljoscha aus Moskau. Er ist ein sozialer Außenseiter und hat es im Gegensatz zu besser betuchten Gleichaltrigen, deren Familien über einschlägige Beziehungen verfügen, nicht geschafft, sich der Einberufung zur russischen Armee zu entziehen.

Der Roman

Maylis de Kerangal: „Weiter nach Osten“. Aus dem Französischen von An­drea Sping­ler. Suhr­kamp, Berlin 2024, 90 Seiten, 20 Euro

Die Atemlosigkeit des Geschehens, die bedrängende Gegenwart zeigen sich bereits am Anfang, als Aljoscha inmitten vieler blasser junger Kerle, die alle gleich aussehen, in ärmlichem Drillich in Moskau in einen Waggon der dritten Klasse des Zuges steigt. Ausgesetztsein, Aggressivität, Sinnlosigkeit, diese Gefühlsfarben durchdringen alles, und die Szenerie wird äußerst realistisch beschrieben: der Suff, die Schlägereien, die Ohnmacht der völlig austauschbar scheinenden Einzelnen, die sich gegenseitig drangsalieren, aber irgendwie auch brauchen und die Ghetto- und Lagermentalität aus der Zukunft bereits vorwegzunehmen scheinen.

Die Poesie der Landschaft

Obwohl dies alles hautnah geschildert wird, hat die Sprache der Autorin jedoch noch etwas ganz anderes im Blick als eine bloß äußerliche Darstellung der Wirklichkeit. Dabei geht es nicht in erster Linie um Psychologie oder um ein tieferes Eindringen in das Innenleben der Figuren. Was hier wie mit einer nah heranzoomenden Kamera erfasst wird, nimmt unwillkürlich etwas Mythisches an, etwas aus klassischen Epen, das eine ganz eigene Poesie hat und über den Einzelnen hinausweist: die Landschaft, die Schienen, das Schicksalhafte dieses Unterwegsseins.

Wie Aljoscha eine Zeitlang ganz hinten am Zug sein Gesicht an das Glas des Fensters presst, die Gleise kurz aufblitzen und sich sofort im dunklen Unendlichen verlieren, ist ein einprägsames Bild, und dass er gleich danach von zwei betrunkenen Mitrekruten zusammengeschlagen wird, scheint sich wie folgerichtig daraus zu ergeben.

Das Poetische dieser Sprache ist irritierend exakt, es bedient sich auffällig häufig aus dem Vokabular der Naturwissenschaften. Tag und Nacht wechseln sich vor der Landschaft ab, die eintönig ist und dennoch abwechslungsreich, magisch, fremd. Und wenn die Nacht plötzlich „aufreißt“, wird die Natur draußen „hart, pur, geometrisch“:

„Es ist immer noch derselbe Wald, es sind noch dieselben hoch aufragenden Bäume, dieselben rötlichen Stämme, ein derart mit sich identischer Wald, es ist zum Verrücktwerden, mag man auch einen Fluss sehen, der unter dem Eis hervorquillt, Büsche mit blassen Blüten, schmutzigbraune Schneeflecken am Rand eines schlammigen Wegs, Dächer, Zäune, es ist derselbe Wald, immer und immer noch, nicht mehr der Ozean, sondern die Haut der Erde, die Epidermis Russlands, Krallen und Seide“ – doch bei alldem bewegt sich dieser Text nicht in höheren Sphären, sondern bleibt immer ganz konkret.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die menschenunwürdigen Zustände werden exakt erfasst, in schmerzhaft vergrößerten Einzelmomenten.

Man sieht ihr die Französin an

Zum unerwarteten Ereignis, zum Glutkern des Textes, wird die Begegnung Aljoschas mit der Französin Hélène. Sie betritt unvermutet in Krasnojarsk den Zug und fährt bis zum Endbahnhof Wladiwostok. Man sieht ihr die Französin sofort an, sie hat ein Ersteklasseabteil und es in Krasnojarsk nicht mehr ausgehalten, obwohl sie ihrem Freund in dessen herausragender Stellung sehr verbunden ist. Aljoscha begegnet Hélène an seinem exponierten Fensterplatz am Ende des Zugs. Sie spricht nur rudimentär Russisch, aber bemerkt seine Verzweiflung.

Er hat bereits vergeblich versucht, bei einem Halt trotz des gut gesicherten Bahnsteigs zu fliehen und sich allein durchzuschlagen, Hélènes Erscheinung wie aus einer anderen Welt verleiht ihm einen verwegenen Hoffnungsschub. Und sie versteckt ihn tatsächlich, ohne dass sie genau weiß warum, in ihrem Abteil – er ist nicht sonderlich anziehend, aber verkörpert offensichtlich etwas, was sie auch im postsowjetisch zerrütteten Krasnojarsk gespürt hat.

Es entwickelt sich eine spannende Geschichte, bei der lange offenbleibt, ob Aljoscha von den Häschern der Armee und den allgegenwärtigen Spitzeln im Zug doch noch aufgegriffen wird. Aber diese Spannung ist nur ein Teil der Handlung.

Auf intensive Weise werden hier Leerstellen der Gefühle abgetastet, und es ist ästhetisch äußerst faszinierend, wie die Beziehung von Aljoscha und Hélène in all ihren Ambivalenzen dargestellt wird, wie ihre völlig entgegengesetzten Lebenswelten und Erfahrungen auf engstem Raum zusammenprallen. Das Ganze hat etwas zeitlos Allegorisches und ist dennoch nah an der unmittelbaren politischen Gegenwart – hart und pur eben.

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