Roman „Young Mungo“ von Douglas Stuart: Zerstörung von Schönheit

Douglas Stuart erzählt in „Young Mungo“ von den Proletariermilieus Schottlands. Der Roman ist trotz aller Drastik zum Glück kein Trauma-Porn.

Der Schriftsteller Douglas Stuart schaut nachdenklich in die Kamera

2020 gewann er den Booker-Preis. Jetzt kommt sein zweiter Roman: Douglas Stuart

Fast am Ende des Romans ist die Hauptfigur, der Teenager Mungo Hamilton, zerschunden und überzogen mit Dreck, Blut und Schweiß. Zahllose Hämatome ziehen sich über seinen Körper und auch im Gesicht sieht man die Spuren von rücksichtsloser Gewalt. Er steht – im wahrsten Sinne – vor den Trümmern seiner Hoffnungen: „Die Sonne stand noch nicht einmal an ihrem höchsten Punkt, aber alles Schöne war schon zerstört.“

Der zweite Roman des schottischen Autors Douglas Stuart, „Young Mungo“, ist neben vielem anderen die Geschichte über die Zerstörung von Schönheit. Mungos makelloses Aussehen, seine Persönlichkeit und sein Leben sind dabei nur die offensichtlichsten Ziele der Angriffe.

Die Welt, in der alles Schöne zerstört wird, ist das proletarische Milieu in den heruntergekommenen Sozialwohnanlagen im East End von Glasgow in den neunziger Jahren. Stuart bleibt damit dem Ort und der Zeit, die er aus eigener Erfahrung kennt und bereits erfolgreich literarisiert hat, treu. Schon sein Debütroman „Shuggie Bain“, 2020 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet, spielte im postindustriellen Glasgow und handelte von der Kindheit eines Jungen in einem feindlich gesinnten Umfeld.

Douglas Stuart: „Young Mungo“. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hanser.Berlin, Berlin 2023, 417 Seiten, 26 Euro

Ganz ähnlich geht es Mungo. Er ist mit fast 16 Jahren das jüngste von drei Kindern der alleinerziehenden Maureen, genannt Mo-Maw, die gerade einmal Mitte dreißig ist. Seine Schwester Jodie, kaum zwei Jahre älter als er, übernimmt die Mutterrolle, die die alkoholkranke und unzuverlässige Maureen nicht ausfüllen kann. Hamish, der älteste, ist selbst schon Vater und Anführer einer protestantischen Jugendgang, die Bauhöfe ausraubt und sich blutige Straßenschlachten mit katholischen Banden liefert.

Hamish ist es auch, der aus seinem Bruder einen Mann machen will. Ein Mann sein heißt hier, sich rücksichtslos und gewalttätig zu verhalten und unter keinen Umständen den Eindruck zu erwecken, nicht heterosexuell zu sein.

Als Schwuchtel beschimpft

Wie eng das Spektrum für Männlichkeit in diesem Umfeld ist, macht Hamish klar, als er ein Mitglied seiner Gang als „Scheißschwuchtel“ beschimpft, weil der bei einem Raubzug für seinen Geschmack zu sorgfältig in einem Werkzeugkasten nach Beute sucht. „Hör auf, Zeit zu verschwenden, als würdse dir die Karotten aussuchen, diede dir innen Arsch schieben willst“, herrscht er ihn an. Wie ein gnadenloses Damoklesschwert hängt die Angst davor, als schwul oder auch nur „weich“ zu gelten, über allen männlichen Figuren des Romans.

Beinahe zu perfekt fügt sich in dieses Setting die in langen Rückblenden erzählte Romeo-und-Julia-Geschichte ein, die sich zwischen Mungo und dem etwas älteren katholischen Teenager James entfaltet, der zwischen den Mietskasernen einen Taubenschlag hat und wie Mungo Halbwaise ist. Tatsächlich ist es auch nicht diese Handlung, die „Young Mungo“ zu dem beeindruckenden Roman macht, der er ist.

Der Reiz des Romans besteht in der Spannung aus Ruhe und Chaos, aus Liebe und Hass, aus Schönheit und ihrer Zerstörung. Der Taubenschlag im Hinterhof und die Wohnung, in der James meist allein lebt, werden zum Ort der Ruhe, an dem die beiden Jungs sich erst vorsichtig, später leidenschaftlich näherkommen.

Währenddessen spielt sich draußen auf den Straßen und in den Sozialwohnungen das Leben ab, vor dem die beiden fliehen wollen und müssen. Dort patrouilliert die Gang von Hamish, häusliche Gewalt ist Alltag, Mo-Maw kommt tagelang nicht nach Hause, Jodie wird von einem Lehrer sexuell ausgenutzt und der feingeistige Mr Calhoun, von allen nur Poor-Wee-Chickie genannt und als Kinderschänder verleumdet, bringt sich vor homophober Gewalt in Sicherheit.

Zuneigung und unbeholfene Lust

Die Szenen, in denen sich die Zuneigung und die unbeholfene Lust von James und Mungo zeigt, sind auch Momente der Ruhe für die Leser*innen. „Wie heißer gebutterter Toast, wenn man am Verhungern war“, fühlt sich der erste, beinahe zufällige Kuss der beiden an. Der Nachmittag, den die beiden an James’ Geburtstag am Flussufer zusammen verbringen, ist die Beschreibung einer vorsichtigen Annäherung zwischen zwei Teenagern.

Derart auf den Punkt, haarscharf am Klischee vorbei, erzählt Stuart diesen Moment, dass man ihn gerade noch genießen kann. So voller Gewalt und Dreck der Roman die meiste Zeit ist, so zart, unbeholfen und liebevoll entwickelt sich die Beziehung zwischen den beiden jungen Männern.

Auch wenn der zentrale Konflikt in einer von Gewalt und Hass bedrohten Liebe besteht, würde es trotzdem zu kurz greifen, zu behaupten, es ginge allein um Liebe zwischen zwei Männern in einem homophoben Umfeld. Mungo und James können nicht einmal vorgeben, befreundet zu sein, weil die Rivalität zwischen Katholiken und Protestanten ausreicht, jede Beziehung zwischen den beiden zur Gefahr werden zu lassen. Als Hamish erfährt, dass Mungo mit einem Katholiken Zeit verbringt, droht er den Taubenschlag mit James darin abzubrennen. Von der körperlichen Zuneigung der beiden weiß er da noch nichts.

Postindustrielles Schottland

Stuart erzählt im Kern von unsicheren Identitäten und den Konsequenzen gesellschaftlicher Machtstrukturen. Alle männlichen Figuren sind auf die ein oder andere Weise gefangen in toxischen Männlichkeitsidealen. Die Teenagerjungs spielen Männer, so voller Angst, nicht männlich genug zu sein, dass sie sich gegenseitig fast umbringen. Körperliche Nähe ist ihnen nur mit Härte möglich.

Die Frauen leiden unter dieser Gewalt und verteidigen doch das Verhalten, weil sie darin die unvermeidliche Reaktion auf die Unterdrückung ihrer Klasse durch Politik und Gesellschaft sehen. Stuart rechtfertigt die Gewalt nicht durch die Diskriminierung, die das Arbeitermilieu im postindustriellen Schottland nach Margaret Thatcher erfährt, aber es ist unübersehbar, wie sehr alle Figuren unter der Klassenhierarchie leiden.

Geschildert wird das alles in einem kontrastreichen Ton, der die Prosa der Erzählstimme und den Klang des schottischen Proletariermilieus dennoch in eine Balance bringt, in der beides nicht fehl am Platze wirkt. Das schottische Englisch, das die Figuren sprechen, steht gegen die reduzierte und bildreiche Sprache der Narration.

Trotz all der Gewalt nicht trostlos

Genau hier ist die gelungene deutsche Übersetzung auch trotz allem in einem unvermeidbaren Nachteil. Der leicht rhythmische Ton der englischen Erzählstimme funktioniert auch noch im Deutschen: „Der Wind, der über den See blies, roch nach Regen. Mungo stand lange am Ufer. Die beleuchteten Männer sahen aus wie ein Diorama: Sie tranken, rauchten, spähten hinaus ins Nichts.“ Das kantige und schnarrende Schottisch der Figuren ist allerdings nicht in einen deutschen Soziolekt übertragbar: „Yer mammy will feel heavy rotten. She’ll take a wee drink […]. That’s what wummin do; they cannae be trusted to haud their own watter.“

Die Übersetzerin Sophie Zeitz hat bei der Übertragung der wörtlichen Rede den vermutlich einzig möglichen Weg gewählt und aus dem schottischen Slang die konzeptionelle Mündlichkeit einer unspezifischen deutschen Umgangssprache gemacht. So rutscht der Text in der Übersetzung nicht in einen aufgesetzten deutschen Soziolekt ab, verliert jedoch eine seiner prägenden Eigenschaften.

Doch auch in der Übersetzung wird deutlich, dass Stuart einen Roman geschrieben hat, der trotz all seiner Drastik und des Hasses nicht trostlos ist. Im Gegenteil, es ist zwar manchmal nicht leicht zu ertragen, was Mungo und andere Figuren an Psyche und Leib erleiden müssen, aber Stuart gelingt es, hoffnungsvolle Fäden einzuweben, an denen man sich festhalten kann.

Deswegen ist „Young Mungo“ auch kein Trauma-Porn, dazu ist der erzählerische Widerstand gegen die Trostlosigkeit zu groß. Durch alle Gnadenlosigkeit hindurch scheint am Ende doch noch so etwas wie eine Zukunft. Denn so sehr die Geschichte auch an „Romeo und Julia“ erinnert, Stuart ist nicht Shakespeare. Zum Glück nicht.

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