Roman „Serge“ von Yasmina Reza: Anstrengende Menschen
Die französische Autorin Yasmina Reza hat ein Konversationsdrama in Prosaform geschrieben. Es geht um einen Familienausflug nach Auschwitz.
Serge kann ein wahrer Kotzbrocken sein. Einerseits. Andererseits ist er Familie, und das schlägt alles. Diese Familie unternimmt in diesem Roman eine Reise nach Auschwitz; und wenn man die hiesigen Rezensionen von Yasmina Rezas neuestem Werk scannt, könnte man den Eindruck bekommen, dass Auschwitz das Hauptthema des Romans sei.
Das stimmt nicht ganz. Falls es ein Hauptthema in diesem Roman gibt, so ist es am ehesten das soziale Konstrukt Familie und die Frage nach einer gemeinsamen familiären oder/und jüdischen Identität. Auschwitz kommt in diesem Zusammenhang die Rolle eines extremen Schauplatzes zu, in dessen Rahmen die Autorin unter anderem die charakterlichen Defizite ihrer Hauptfigur besonders pointiert offenlegen und nebenbei auch zeigen kann: Das Wissen um die Shoah, selbst wenn vermittelt durch eine sehr achtsame Gedenkkultur, macht niemanden zu einem besseren Menschen.
Also hat die Menschheit durch Auschwitz nichts gelernt. Das ist wohl ungefähr das, was Serge selbst sagen würde, der es schafft, sich während der Auschwitz-Reise so sehr mit seiner Schwester zu streiten (und dabei eindeutig im Unrecht ist), dass beide danach monatelang nicht miteinander reden.
Die Familie also: Sie konstituiert sich in diesem Roman, der mit der Beerdigung der alten Mutter beginnt („Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin einäschern lässt“, kommentiert Enkelin Joséphine befremdet), aus drei Geschwistern und ihrem Anhang. Serge ist in den Sechzigern, Jean, der die Rolle des (ausgleichenden, aber dem Bruder gegenüber eher unkritischen) Ich-Erzählers übernimmt, wenige Jahre jünger; und die Schwester Nana ist mit gewissem Abstand die Jüngste. Nana ist als Einzige glücklich verheiratet; allerdings finden ihre chronisch ungebundenen Brüder den langjährigen Gatten der Schwester kaum standesgemäß.
Yasmina Reza: „Serge“. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser, München 2022. 208 Seiten, 22 Euro
Jean seinerseits hat es nie geschafft, eine ernsthafte Beziehung einzugehen, und pflegt ein lockeres Verhältnis zu einer Frau, um deren kleinen Sohn er sich gern kümmert. Serge hat eine Tochter, Joséphine, aus einer verflossenen Beziehung. Gerade ist er obdachlos geworden, denn seine Freundin hat ihn vor die Tür gesetzt.
Man kann sie sich alle als anstrengende Menschen vorstellen. Yasmina Reza verschwendet keine Zeit mit expliziten Charakterzeichnungen, liefert nur, vor allem vermittelt durch die Dialoge, andeutungsreiche Skizzen. Joséphine ist ein gutes Beispiel; denn da Ich-Erzähler Jean mit seiner Nichte wenig anfangen kann, muss man sie durch andere Zeichen lesen. Die 23-jährige Tochter von Serge ist zu dessen großbürgerlicher Enttäuschung Visagistin geworden, läuft mit einer gestylten „Ananas-Frisur“, wie ihr Onkel es nennt, durch Auschwitz und macht ununterbrochen Fotos, was Jean sehr irritiert: „‚Schrecklich‘, sagte Joséphine und machte noch ein paar Außenaufnahmen vom Krematorium. Werden sie jetzt bei jeder Gelegenheit schrecklich, unfassbar usw. sagen? fragte ich mich.“
Doch es ist Joséphine, die den Familienausflug nach Auschwitz überhaupt initiiert hat und die ihren widerstrebenden Vater zwingt, die Räume der Gedenkstätte auch zu betreten, wenn er schon mal da ist. „Gerade hab ich ihr für ein Wahnsinnsgeld eine Augenbrauen-Fortbildung bezahlt, da könnt ihr mal sehen, und jetzt will sie nach Auschwitz, was hat das Mädchen bloß?“, äußert Serge sein Unverständnis für das ganze Unternehmen. Für seine Tochter aber scheint „Auschwitz“, einigermaßen absurderweise, als Konzept zentral für eine jüdische Identität zu sein, nach der sie sucht, die der älteren Generation aber eher wumpe ist.
Dass sich aus deutscher Sicht die ironisch gefärbten Auschwitz-Passagen anders lesen als aus französischer Perspektive, versteht sich von selbst. Eine deutsche Autorin könnte nicht tun, was Reza hier tut. Auf keinen Fall könnte zum Beispiel ein nichtjüdischer deutscher Ich-Erzähler sich lustig machen über israelische Touristen, die sich für die Besichtigung eines KZs in ihre Nationalflagge wickeln. Und natürlich fühlt man bei der Lektüre ein gewisses Widerstreben, solche Beobachtungen amüsant zu finden, weil damit ein tief verinnerlichtes Tabu verletzt wird. Aber Reza macht ja keineswegs aus Auschwitz eine Lachnummer, sondern nimmt nur die Formen des Gedenkens aufs Korn.
Ihre Beobachtungen sind dabei gut austariert zwischen sanft satirischen Passagen und beklemmenden Momenten. Allerdings geht es in diesem Roman eben eher so nebenbei um Auschwitz und ansonsten um eine Menge anderer Dinge: um das Verschwinden des Jüdischseins in einer säkularen Gesellschaft. Um Männer von großem Selbstbewusstsein, die im fortgeschrittenen mittleren Alter die erste existenzielle Krise erleben. Und um die Familie, die man halt immer so nehmen muss, wie sie ist. Aber andererseits ist sie wohl auch das, was man draus macht.
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