Roman „Johanns Bruder“: Eine Reise in das Vergessene
In „Johanns Bruder“ beschreibt Autor und Schauspieler Stephan Lohse zwei ungleiche Männer. Zusammen machen sie sich auf, das Leben zu verstehen.
Was passiert beim Schreiben, wenn die Hand sich über das Papier bewegt? Geht der Inhalt dann anders durch Körper und Geist als bei der bloßen Lektüre? Entstehen mehr Bilder, innere Kommentare, setzt sich die Geschichte durch die handschriftliche Wiederholung anders im Gedächtnis fest? Hilft das Aufschreiben, um zu begreifen? Oder dem Unerträglichen zu begegnen?
Stephan Lohse: „Johanns Bruder“. Suhrkamp, Berlin 2020, 343 Seiten, 22 Euro
Diese Fragen kann man sich bei der Lektüre des Romans „Johanns Bruder“ von Stephan Lohse stellen. Denn Johanns Bruder Paul spricht nicht, er schreibt. In der direkten Kommunikation auf einen Wunderblock, aber auch in vielen Momenten auf Verpackungen, Quittungen, jedes greifbare Stück Papier. Er ordnet sie in Stapeln, sortiert sie in Tüten und gräbt dieses Archiv seiner Gedanken um und um wie ein Archäologe der eigenen Geschichte.
Paul schreibt über Adolf Eichmann, über dessen Tarnungen nach 1945, über die Sprache seiner Verteidigung in Jerusalem. Er schreibt über das Foto eines kleinen Jungen, der als einziger seiner jüdischen Familie ein Konzentrationslager überlebt hat und nach der Befreiung neben den Leichen der Hingerichteten fotografiert wird. Er schreibt über ein Polizeibataillon der Deutschen Wehrmacht, das für Massenerschießungen in Bialystok verantwortlich war.
Er reicht diese Texte nach und nach seinem Bruder Johann, auf einer seltsamen Reise, die beide zusammen unternehmen. Diese dokumentarischen Texte zu lesen, ist hart, nicht nur für Johann, sondern für jeden Leser des Romans.
Fast zwanzig Jahre lang haben sich Paul und Johann nicht mehr gesehen, als der Roman beginnt. Als sie sich wiedertreffen, spielt die Suche nach Erinnerung eine große Rolle.
Der Vater bestrafte jede Abweichung
Johann, drogenverpeilt, hat vergessen oder vergessen wollen als Schutz vor der Vergangenheit: den prügelnden, fanatisch religiösen Vater, der jede noch so kleine Abweichung bestraft. Eine Mutter, die verschwunden ist. Ein Bruder, der nicht spricht. Jetzt aber will Johann erinnert werden. Wieder und wieder muss Paul ihm Zettel reichen, auf denen die Mutter beschrieben ist. Das ist eine anrührende Geste, auch der Versöhnung. Denn jahrelang hat sich Johann nicht um Paul gekümmert.
„Johanns Bruder“ ist der zweite Roman von Stephan Lohse, geboren 1964. Auch in seinem Buch „Ein fauler Gott“, 2017 erschienen, ging es um eine Familie, zwei kleine Brüder und um eine Geschichte von Trauer und Verlust. Es ist emotional berührend, aber nie sentimental, wie Lohse nach und nach die Geschichte von Johann und Paul aufblättert, aus beschädigten Fragmenten zusammensetzt.
Die erfahrene Gewalt immer nur stückchenweise aufzudecken, ist eine gute erzählerische Strategie, um die Tiefe der erlittenen Verletzungen ahnen zu lassen. So wie ein Kind, das etwas, vor dem es sich fürchtet, nur durch kleine Sehschlitze zwischen den Fingern der vor die Augen gehaltenen Hände anschaut.
Eine Reise als Bußübung
Die Brüder reisen unbequem, meist mit dem Bus durch kleine Dörfer, in denen sie als Fremde auffallen, um möglichst nahe an einem Breitengrad zu bleiben, der für Paul eine historische Verbindungslinie zwischen Orten der nationalsozialistischen Verbrechen bildet. Vergangenheit ist für ihn untrennbar mit der Topografie verbunden. Warum er von der Geschichte so besetzt ist, dass er die gemeinsame Reise wie eine Bußübung gestaltet – man kann sich als Leser nicht sicher sein.
Liegt es am katholischen Familienerbe? Ist es ein innerer Aufstand gegen die bundesrepublikanische Verdrängungsleistung? Beruht es auf der Wiederkehr von nationalsozialistischen Gedanken in der Gegenwart? Aber mit dem Schlingern zwischen diesen Optionen hat man die Antwort vielleicht schon gefunden. Es ist der Versuch, sich einer Geschichte zu stellen, mit der man nicht fertig werden kann.
Beobachtungen an Bushaltestellen
Den ungleichen Brüdern durch die deutsche Provinz zu folgen, ist eine lohnende Lesereise. Mit feinem Humor widmet sich Stefan Lohse Beobachtungen des Alltäglichen an Bushaltestellen, Supermarktparkplätzen, in Pensionen.
Für Johann ist es auch eine Reise weg vom Liebeskummer, von der Bestürzung über sein zielloses Leben, der Enttäuschung über sich selbst. Paul wird zwar auf der einen Seite als Autist beschrieben, ist andererseits aber der stabilere von beiden. Oft überrascht er seinen Bruder durch seine Klugheit in der Einschätzung der ihnen begegnenden Menschen. Damit erhalten die Episoden ihrer Reise viel Farbe.
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