Roman „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“: Die Worte der anderen
Carolina Schutti zeigt in ihrem aktuellen Roman, wie eindringlich sich in klarer Sprache eine unbeschreibliche Einsamkeit beschreiben lässt.
Rätselhaft ist die Welt, in die uns Carolina Schutti in ihrem Roman „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“ wirft: Wir begegnen einer namenlosen Frau, die in einer „Anstalt“ untergebracht ist, weil sie die Kontrolle über die Kernelemente des Ichs – ihren Körper, ihre Sprache, ihre Emotionen – verloren hat. Hypersensibel und wach zeigt sie sich für die Welt der Dinge; die Worte der anderen scheinen hingegen durch sie hindurchzudiffundieren. Alles und nichts trifft sie.
Die zweite Frau der Geschichte, Ina, bricht ohne nachvollziehbare Erklärung nach Sibirien auf. Ein eher windiger Mann namens Boris bringt sie dorthin, wo man das Ende der Welt vermuten darf. Über Monate lebt sie völlig abgeschnitten von der Welt; Ina muss sich auf alles vorbereiten – den Hunger, die Wölfe, die Einsamkeit.
Die Namenlose erzählt ihre Geschichte selbst, im Präsens – stimmiger Ausdruck ihrer inneren Isolation, die vielleicht, vielleicht auch nicht, Ergebnis der Medikamente ist. „Die Tablette bewirkt: Kein Empfinden, wenn ich die Hände zu Fäusten balle. Wenn ich die Kiefer zusammenpresse, bis es knirscht. Wenn ich leise, sodass mich keiner hört, zischende Fluchwörter ausstoße. In mir bleibt alles ruhig.“
Ich habe die Kontrolle verloren
Der Essayist Mark Fisher hat einmal geschrieben, dass die meisten Bücher und Filme über Wahnsinn ein entgrenztes Ich darstellen. Tatsächlich aber flute im Wahnsinn die Welt in das Ich und umgekehrt. Das illustriert auch Schutti: „Fünf Wörter wenigstens: Ich habe die Kontrolle verloren. Oder sechs: Ich muss raus aus meinem Kopf.“
Carolina Schutti: „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“. Droschl, Graz 2021, 152 Seiten, 19 Euro
Aber die Welt drückt sich mit aller Macht in den Kopf wie die Kälte in den Körper: „Ich stehe am Waschbecken, drücke mir ein kaltes, nasses Handtuch ins Gesicht, drücke mir die Kälte in die Poren, mehr davon, mehr, ich fülle eiskaltes Wasser in einen Becher, trinke, bis es schmerzt.“
Ida, von der uns eine Erzählerstimme berichtet, scheint der Namenlosen in diesem Punkte nicht unähnlich. Die eiskalte Welt außerhalb der Halle, in der sie Boris zurücklässt mit dem Versprechen, schon bald wiederzukehren, schließt sich wie ein enger Kreis um sie.
Agenten des anderen
Der einzige Vertraute der Namenlosen in der Anstalt ist Mark, der aber buchstäblich blass bleibt. Der da ist und nicht da, vielleicht nicht nur im Kopf der Erzählerin existiert. Dasselbe gilt für Boris, der zwar plastischer wird, aber ebenso schnell verschwindet, wie er aufgetaucht ist, und Ina auf sich zurückgeworfen allein lässt. Beide Männer sind Agenten des anderen, eine Art Spiegel des Ichs. Vor allem bewirken sie, dass die Frauen im Dialog mit sich selbst bleiben.
Ein verbindendes Motiv – ein wachsender Ausschlag auf der Haut samt fürchterlichem Jucken – verdeutlicht dem Leser, dass diese beiden Frauen mehr verbindet als ihre Form des In-der-Welt-Seins und eine unbeschreibliche Einsamkeit. Die Frage nach der Verlässlichkeit der Erzählinstanzen scheint sich gar nicht mehr zu stellen: Zu traumartig, zu rätselhaft ist die erzählte Welt.
Klar und nüchtern dagegen ist Schuttis Sprache, sozusagen ganz in der Welt verankert. Es ist eine Sprache, die in kreisenden Bewegungen die Empfindungen und Erlebnisse umschreibt, sich ihnen annähert, erst zögerlich tastend, dann forscher.
Souveräne Autorin
„Ina blickt in die Richtung, in der sie die Winterstraße vermutet, als könne sich ihr Blick durch das Gebüsch schlagen, durch den Wald schlängeln, als wäre ihr Blick ein Geräusch, das der Wind in die Ferne trägt.“ Man lässt sich beim Lesen treiben, das Lesen kennt kein Ziel, man erwartet keine exakte Auflösung der Frage: Was bewegt denn nun eigentlich diese Frau(en).
„Der Himmel ist ein kleiner Kreis“ zeigt die Österreicherin Schutti als Autorin, die souverän ihr sprachliches und erzählerisches Handwerk beherrscht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“