Roman „Das Birnenfeld“: Die Normalität der Abgeschobenen
Lelas Zuhause ist ein georgisches Kinderheim. Ihre Perspektive gewährt intime Einblicke in ein System aus Gewalt und Erniedrigung.
In der von sozialistischen Einheitsbauten gesäumten Kertsch-Straße am Rand der georgischen Hauptstadt kennt man das benachbarte Internat nur als „Debilenschule“. In knapper, sehr bildhafter Sprache erzählt die in Tiflis aufgewachsene Autorin und Filmemacherin Nana Ekvtimishvili in „Das Birnenfeld“ von dem Leben an diesem abseitigen Ort.
Denn für die benachteiligten Schüler der Anstalt fühlt sich nach dem Ende der Sowjetrepublik, Mitte der neunziger Jahre niemand zuständig.
Wie die meisten der Kinder dort weiß auch Lela nicht, wie sie in das Heim kam und wer ihre Mutter ist. Inzwischen ist sie die älteste und stärkste der Bewohner.
Nun hat die Achtzehnjährige die Stelle des Parkplatzwächters an der Schule übernommen. Mit burschikoser Fürsorge kümmert sie sich besonders um den neunjährigen Irakli. Der leidet unter der Trennung von seiner Mutter, die ihn am Telefon immer nur vertröstet und irgendwann ohne Abschied nach Griechenland verschwindet.
Von der Gesellschaft isoliert
Für Lela kommen und gehen die Bewohner des Internats. Über einige der ehemaligen Heimkinder kursieren heldenhafte Geschichten, andere sollen beim Betteln am Bahnhof gesehen worden sein. Als der kleine Sergo für die Internatsdirektorin Zizo mit einem Kleid zur Kioskbesitzerin rennt, wird er auf der Straße von einem Auto überfahren. Der Fahrer kommt für die Beerdigung des Jungen auf, und eine Nachbarin kommentiert das anerkennend: „Ein anderer hätte sich nicht mal nach ihm erkundigt“.
Nana Ekvtimishvili: „Das Birnenfeld“. Aus dem Georgischen von Juliane Deng und Ekaterine Teti. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 221 Seiten, 16,95 Euro.
Aus Lelas Perspektive und mit deren stoischer Haltung verfolgt Ekvtimishvili in ihrem Romandebüt die Ereignisse auf dem Internatsgelände zwischen Badehaus, Hauptgebäude und den Wohnblöcken der Nachbarschaft. Erwachsene scheinen in der Welt der Heimkinder keine tragende Rolle zu spielen.
Und umgekehrt nimmt die Außenwelt wenig Notiz von ihnen. So sind sie weitgehend sich selbst überlassen und handeln nach ihren eigenen, erprobten Gesetzen.
Nur Lelas unbändige Wut kontrastiert gleich zu Beginn der Handlung den eingespielt wirkenden Internatsalltag: „Ich töte Wano.“ Obwohl die Autorin die Hintergründe für den Plan erst im Verlauf der Erzählung durch kurze Rückblenden offen legt, öffnet Lelas Mordfantasie sehr bald den Blick auf ein System aus Gewalt und Erniedrigung, das die abgeschobenen Kinder als Normalität kennengelernt haben. Dieser Realität begegnen sie mit Brutalität genauso wie mit Mitgefühl.
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