Roma in Europa: Der Geruch der Armut
Roma sind eine sozial benachteiligte Gruppe. Wer dies außer Acht lässt, wird das Übel nur befördern. Wir müssen anders über Roma reden.
Roma stinken: Das ist in Osteuropa eine gängige Beleidigung, die schon kleinen Kindern den Schulbesuch zur Hölle machen kann. Wer gelernt hat, Minderheiten die fällige menschliche Wertschätzung zu erweisen, wird sich darüber empören.
Die Geschichte hat aber auch eine andere Seite. „Wir kriegen hier in unseren Hütten die Kleider nicht trocken“, sagt Elena, eine alleinerziehende Mutter, die mit ihren vier Kindern in einer verfallenen Hütte am Stadtrand von Cluj in Rumänien lebt. „Waschen können wir sie am Brunnen, aber trocknen können wir sie nicht.“ Und fügt hinzu: „Wenn ich den Kindern feuchte Sachen anziehe, dann werden sie krank.“
Roma sind – nicht nur in Osteuropa – zwei Übeln zugleich ausgesetzt: der Verachtung ihrer Mitmenschen und einer überkommenen Armut. Was gegen das eine Übel hilft, hilft nicht nur nicht gegen das andere, sondern befördert es zuweilen sogar.
Der Autor arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als freier Korrespondent für Südosteuropa. Er veröffentlichte 2012 „Arme Roma, böse Zigeuner" bei Ch. Links
Wer die Roma gegen die Verachtung in Schutz nimmt, wird den Hetzern antworten: Geruch ist eine Sinneswahrnehmung, die man nicht messen kann. Also hört auf, über etwas zu reden, das ihr nicht belegen könnt! Woher wollt ihr wissen, dass Roma oft stehlen?, fragen die Gutwilligen. Keine polizeiliche Statistik weist ethnische Gruppen gesondert aus! Roma – so wissen wir – sind nicht besser und nicht schlechter als andere, sie sind Menschen wie alle anderen auch.
Intakte Familien
In diesem Satz, so richtig er ist, sind allerdings die Bedingungen ausgeklammert, unter denen in Rumänien, Bulgarien, in der Slowakei oder in Serbien die meisten Roma leben müssen. Wer seine Kleider nicht waschen kann, fängt tatsächlich irgendwann zu riechen an. Es ist der Geruch der Armut, nicht der Geruch der Roma. In allen Slums auf der Welt und um sie herum gibt es auch Kriminalität.
Osteuropäische Roma-Quartiere machen da nur insofern eine Ausnahme, als die Gewaltkriminalität wegen der intakten Familienbindungen dort viel geringer ist als in südafrikanischen Townships oder brasilianischen Favelas. Die rassistischen Hetzer hätten gern eine Roma-Kriminalstatistik zur Hand, um beweisen zu können, dass „die Zigeuner“ viel häufiger stehlen als zum Beispiel „die Deutschen“. Die bekommen sie nicht, und das ist auch gut so. Aber dass „die Deutschen“ für „die Roma“ eine angemessene Vergleichsgruppe darstellen, zieht niemand in Zweifel.
Roma sind ein „Volk“, eine ethnische Gruppe, aber sie sind nicht nur das. In der Realität und auch im Begriff, den wir und sie sich davon machen, sind sie – anders als zum Beispiel „die Deutschen“ – zugleich eine soziale Gruppe, eine Schicht. Das sollten wir spätestens 2014 alle begriffen haben. In der Geschichte der Roma waren in den vergangenen 250 Jahren beide Aspekte, der ethnische und der soziale, immer präsent. Einmal war der eine stärker, dann wieder der andere.
Die Aufklärer betonten die Begabung jedes Menschen zur Vernunft und unterzogen die Zigeuner ungeachtet ihrer ethnischen Besonderheit einer strengen Erziehung und Assimilation. Die Romantiker dagegen betonten und betonen deren Andersartigkeit – den Volkscharakter. Manche Vertreter dieser Denkungsart loben den (übrigens steigenden) Analphabetismus von südosteuropäischen Roma folgerichtig als „schriftlose Kultur“. Was anders ist, denken sie, kann nicht schlecht sein.
Wir leben, wenn es um Roma geht, in ganz Europa seit dem Einsetzen der Roma-Nationalbewegung vor über 40 Jahren in einer romantischen Phase. Wir begreifen Roma als Volk und wenden gegen ihre Misere alle Mittel der Volksgruppenpolitik an: Anerkennung als nationale Minderheit, Unterstützung von Selbstorganisation und Selbstvertretung, Ächtung von Diskriminierung. Das passte gut zu den Debatten über Multikultur und Einwanderung, die zur gleichen Zeit an anderen Gegenständen geführt wurden. Dass Roma zugleich aber fast immer arm oder unmittelbar der Armut entkommen sind, blieb außer Acht.
Kampf statt Respekt
Minderheitenpolitik aber hilft nicht gegen Armut, sie kann sogar schaden. Wenn die Roma ein Volk sein wollen, liest man neuerdings in den Chaträumen, dann sollen sie ihre Verhältnisse gefälligst untereinander regeln. Niemand käme allerdings auf die Idee, etwa die Hartz-IV-Empfänger eine Vertretung bestimmen und ihre Verhältnisse untereinander regeln zu lassen. Armut gehört bekämpft, nicht respektiert. Armut verlangt nicht nach Autonomie, sondern nach rückstandsloser Integration.
In den südosteuropäischen Ländern, wo ethnische Minderheiten kollektive Rechte genießen, wählen die allermeisten Roma deshalb auch keine Roma als ihre Vertreter. Sie wissen: Minderheitenvertreter eignen sich schlecht als Kämpfer gegen die Armut. Minderheitenvertreter müssen beweisen, dass die von ihnen vertretene Gruppe zwar kulturell anders, aber nicht schlechter ist als die Mehrheit. Deshalb werden sie versucht sein, die Armut und deren Folgen herunterzuspielen. „Volk“ sein (und damit für viele auch: sich Roma und nicht „Zigeuner“ nennen) bürdet ihnen einen Anspruch auf, den sie nicht erfüllen können.
Die „anderen Bilder“, die Geschichten von Roma, die so gar nicht dem Klischee entsprechen, sind deshalb ambivalent. Jane Simon (33) kommt aus einer analphabetischen Roma-Familie. Sie hat es geschafft, sich davon zu lösen, und sagt in einem Roma-freundlichen Artikel der Bild-Zeitung: „Natürlich werfen die rumänischen Bettelbanden ein schlechtes Licht auf uns alle!“ Die Erfolgreichen unter den Roma zeigen der Mehrheitsgesellschaft: Seht her, wir sind wie ihr! Gebildet, gepflegt, erfolgreich, begütert vielleicht, eloquent. Die Mehrheit nimmt das zu gern auf und gibt zurück: Es geht ja, wenn man sich genügend anstrengt!
Das mag für Deutschland stimmen; für Rumänien, Bulgarien oder Mazedonien stimmt es definitiv nicht. „Bildung ist der Schlüssel zur Lösung der Probleme“, lautet das politische Mantra dazu. Aber eine Investition in Bildung muss man sich erst einmal leisten können. Wer nicht hoffen kann, für eine jahrzehntelange Schul- und Universitätskarriere mit einem guten Leben belohnt zu werden, der wird in Bildung auch nicht investieren. Der Zusammenhang von Bildung und gutem Leben ist in Osteuropa – und zwar nicht nur für Roma – zerrissen.
Wenn wir von den Roma nur als von einem Volk sprechen, ersparen wir es uns, von der Armut überhaupt zu reden. In Umfragen wird regelmäßig festgestellt, dass zwischen 20 und 30 Prozent der Deutschen keine Türken oder Afrikaner als Nachbarn haben wollen, aber um die 60 Prozent keine Roma. Wer eine Gruppe, die zu 90 Prozent aus Armen und Arbeitslosen besteht, mit einer verfassten, geschichteten Nation vergleicht, setzt sie einer unfairen und unsinnigen Konkurrenz aus. Am Ende werden die Leute sagen: Die Roma mögen ja ein Volk sein. Aber dann sind sie ein minderwertiges.
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