Roma-Konferenz in Brüssel: Die Dolmetscher vergessen
Die EU verspricht mehr Engagement. Doch die Organisatoren des bisher größten Roma-Gipfels mussten herbe Kritik von Vertretern der Roma-Verbände einstecken.
Etwa zehn Millionen Roma sollen seit der letzten Erweiterung in der EU leben, die meisten in südosteuropäischen Ländern. Die Roma sind damit die größte ethnische Minderheit in der EU. Die Mehrheit von ihnen ist jünger als 20 Jahre, während ihre Lebenserwartung 10 bis 15 Jahre unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Soziale Isolation, hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Schulbildung schreiben die Perspektivlosigkeit vieler Roma fort. Die einst kommunistischen Länder hatten eine Politik der Sesshaftmachung betrieben, die wiederum die Entstehung von Gettos begünstigte. Mit Einführung der Marktwirtschaft waren gerade Roma häufig die ersten Opfer der Entlassungswellen. Die meisten Roma leben in Rumänien, etwa 2 Millionen. In Deutschland sind es 600.000. TAZ
Bis nach der Mittagspause musste Rudko Kawczynski warten, um seinen Ärger loszuwerden. Drei Stunden hatte der mit viel Mediengetöse angekündigte "Erste Europäische Roma-Gipfel" schon getagt. Mehr als 500 Teilnehmer aus ganz Europa waren angereist, für deren Kommunikation eine Simultanübersetzung ins Italienische, Ungarische, Rumänische, Deutsche und Englische vorbereitet war. Leider hatte der Gastgeber, die Europäische Kommission in Brüssel, nicht daran gedacht, einen Dolmetscher für Romani zu organisieren, das viele Roma zumindest als ihre symbolische Muttersprache betrachten.
"Sie reden mal wieder über uns, nicht mit uns", tobte Kawczynski auf Deutsch ins Mikrofon. Dann überschüttete der Präsident des European Roma and Travellers Forum (ERTF) die Zuhörer mit einem Wortschwall in Romani: "Damit Sie mal sehen, wie wir uns heute Morgen gefühlt haben." Kein gutes Haar ließ Kawczynski an den Forderungen und Vorschlägen seiner Vorredner. Bessere Ausbildung? "Nett, die Zigeunerkinder sollen also auch mal zur Schule gehen: barfuß, dreckig und von der Müllhalde, auf der sie leben, direkt in die Irrenschule."
Spezielle Förderprogramme? "Es gibt so viele Projektvorschläge, dass wir daraus ein Feuer machen könnten, das drei Jahre lang brennt. Eine ganze NGO-Industrie nährt sich daraus, Geld zu sammeln und wieder auszugeben." Über die eigentlichen Probleme rede niemand. "Der Antiziganismus ist Bestandteil der europäischen Kulturen - überall! Nach 800 Jahren sollen wir uns plötzlich integrieren, nachdem man vorher alles getan hat, um uns loszuwerden!" 200.000 Roma seien vor den Augen der Nato aus dem Kosovo vertrieben worden, niemand rede darüber. Die Kinder von Kosovska Mitrovica, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, lebten noch immer in einem Lager neben einem bleiverseuchten Industriegebiet.
Immerhin ein Projektförderer, der amerikanisch-ungarische Finanzspekulant und Wohltäter George Soros, findet Gnade vor den strengen Augen des ERTF-Präsidenten. Soros fördert bereits seit 1984 Roma-Projekte in Ungarn und gründete das Zentrum für die Rechte der Roma (ERRC), das bei Diskriminierung Rechtsbeistand anbietet. In seiner Rede erinnerte er an den "vielleicht bislang größten Sieg" des ERRC vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Letzten November urteilte das Gericht, Tschechien habe gegen den Antidiskriminierungsgrundsatz verstoßen, als es 18 Roma-Kinder wegen ihrer Herkunft auf Sonderschulen abschob. "Die tschechischen Behörden nahmen es hin, dass 1999 in einigen Sonderschulen 90 Prozent der Schüler Roma waren und dass noch im Jahr 2004 ein hoher Prozentsatz an Roma-Kindern diese Schulen besuchte", erklärte das Gericht in seiner Begründung.
Der tschechische Sozialwissenschaftler Ivan Gabal hat in mehreren Studien für die EU-Kommission und die tschechische Regierung die Situation der Roma in seinem Land untersucht. Als er 2005 anfing, gab es keinerlei Daten über Wohnungssituation, Bildungsstand und Arbeitschancen der Roma in Tschechien. "Wenn wir kein exaktes Bild von der Situation zeichnen können, werden wir die Regierung nicht dazu bewegen zu handeln." Noch 2006 habe ein Bürgermeister, der eine Roma-Familie aus ihrem Haus im Stadtzentrum vertrieb, die nächste Wahl mit einem Traumergebnis gewonnen. "Andere Lokalpolitiker kopierten ihn. Das war ein Erfolgsmodell!"
Zehn Monate lang bereisten Mitarbeiter von Gabals Institut die Roma-Siedlungen in Tschechien. "Das Ergebnis war schockierend", berichtet der Wissenschaftler. Es gebe 360 Roma-Gettos in seinem Land, die meisten seien erst in den letzten zehn Jahren entstanden. Viele Häuser hätten weder Wasser noch Heizung. 80 bis 90 Prozent der Erwachsenen seien arbeitslos, die meisten Kinder beendeten nicht einmal die Grundschule.
Die Berichte aus anderen osteuropäischen Ländern bestätigen diese Bestandsaufnahme. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Roma liegt zehn bis fünfzehn Jahre unter dem europäischen Durchschnitt.
Der rumänische Soziologe Nicolae Gheorghe, der mehreren Roma-Organisationen angehört, macht teilweise seine Landsleute für ihre schlimme Lage verantwortlich. Er überreichte der Soros-Stiftung als symbolische Geste 5.000 Euro, die wohlhabende Geschäftsleute gesammelt haben. "Wir Roma sind nämlich begabte Unternehmer", erklärte Gheorghe. Die Gemeinschaft müsse langsam anfangen, sich selbst zu helfen. "Unsere Männer sitzen rum und trinken Kaffee, während die Frauen und Kinder schuften müssen. Mit der Ausbeutung unserer Kinder als Bettler, Diebe und Autowäscher muss Schluss sein!" Das neue Europa der offenen Grenzen habe den Roma viele neue Probleme beschert: "Wir wollen Teil des offenen Europas sein, aber nicht des Europas der Menschenhändler!"
Nach diesem umstrittenen Redebeitrag bekam der Gipfel dann aber doch noch Gelegenheit zu einem Moment der Solidarisierung über alle Länder- und Gruppengrenzen hinweg.
Als die italienische Unterstaatssekretärin für Arbeit, Gesundheit und Sozialpolitik erklärte, die erkennungsdienstliche Erfassung der Roma in ihrem Land diene "der Integration, um zum Beispiel Gesundheitsberatung und Impfprogramme zu verbessern", hoben die Teilnehmer T-Shirts mit Fingerabdrücken und dem Schriftzug "Against Racial Profiling" in die Höhe. Der Rest der Rede von Eugenia Maria Roccella ging vollends im Lärm der Trillerpfeifen unter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles