Risikoreiche UN-Arbeit in Somalia: Wenn die Helfer Hilfe brauchen
In Somalia existiert kein Staat. Clans und Milizen befehden sich. Es ist wie kein anderes afrikanisches Land auf humanitäre Hilfe angewiesen. Und nirgendwo sonst sind Helfer so gefährdet.
NAIROBI taz | Ulrik Pedersen hatte seinen abendlichen Dauerlauf schon lange hinter sich, auf dem staubigen Pfad, der einmal rund ums Gelände im Schatten des hohen Wachzauns verläuft. Im Hintergrund hörte der 35-jährige Däne den Muezzin rufen, die Sonne war gerade untergegangen. Eine Stunde später lag Pedersen im Bett, bis ihn das Rattern von Maschinengewehren aus dem Schlaf riss. Da versuchte eine Gruppe von gut zehn schwer bewaffneten Milizen, den Stützpunkt des UN-Welternährungsprogramms (WFP) in Wajid, den größten in Somalia, zu stürmen.
Es war kurz vor 23 Uhr, als der Angriff begann. Noch vor Mitternacht saßen Pedersen und seine Kollegen bereits im Flugzeug nach Kenia. Was genau die Angreifer vorhatten, ist unklar. Vieles spricht dafür, dass sie den Stützpunkt einnehmen und die ausländischen Mitarbeiter als Geiseln nehmen wollten. Für Pedersen, Direktor des WFP-Büros in Wajid, war es die vierte Evakuierung seit Jobantritt. Und es wird sicher nicht die letzte sein.
Denn nach 18 Jahren Ausnahmezustand, in dem Warlords mit Privatarmeen, verfeindete Clans und zuletzt militante Islamisten um die Kontrolle des Landes kämpfen, ändert sich die Sicherheitslage oft binnen Minuten.
Bürgerkrieg: Ein jahrelanger Bürgerkrieg verschiedener Clans und Milizen gegen den Diktator Siad Barre führte 1991 zu dessen Sturz. Der Krieg endete nicht, stattdessen zerfiel jede zentrale Staatlichkeit. Eine von den USA angeführte UN-Truppe versuchte, das Land zu befrieden, zog jedoch nach der - in "Black Hawk Down" verfilmten - "Schlacht von Mogadischu" im Oktober 1993 wieder ab.
Failed State: Somalia führt seit Jahren unangefochten den Index der failed states, also der gescheiterten Staaten an.
Islamisten: 2006 erlangte die Union islamischer Gerichte die Kontrolle über weite Teile des Landes, bis sie Ende 2006 durch eine Intervention des Nachbarlandes Äthiopien verdrängt wurde. Nach dem Abzug der Äthiopier Anfang 2009 wurde der als gemäßigt geltende Islamist Sharif Sheikh Ahmed neuer Übergangspräsident. Allein seit Anfang 2007 starben bei Kämpfen zwischen Islamisten und Regierungstruppen etwa 18.000 Menschen. Im März dieses Jahres wurde die Scharia eingeführt. Somalia laufe Gefahr, zum Rückzugsort internationaler Terroristen zu werden, warnen die USA.
Piraten: Um die Piratenangriffen im Indischen Ozean zu verhindern, entsandte die Europäische Union Ende 2008 Kriegsschiffe. Inzwischen patrouillieren dort auch Schiffe der Nato sowie Chinas, Indiens, Japans und Russlands. Deutschland ist derzeit mit der Fregatte "Bremen" vertreten. (taz)
Derzeit stehen sich Soldaten der offiziell anerkannten Übergangsregierung von Sharif Sheikh Achmed, vor wenigen Jahren selbst noch Rebellenchef, und Islamisten der Shabaab- und Hizbul-Islam-Bewegungen gegenüber. Zu leiden hat unter diesem Konflikt die Zivilbevölkerung: Seit Anfang Mai in Mogadischu wieder besonders schwer gekämpft wird, sind alleine aus der zerstörten Hauptstadt knapp 240.000 Bewohner geflohen. Insgesamt geht die Zahl der Flüchtlinge in die Millionen. Fast dreieinhalb Millionen, meist Vertriebene im eigenen Land, sind auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen - derzeit noch mehr als sonst, nachdem in mehr als zwei Dritteln des Landes die Regenfälle ausgeblieben sind.
Und doch wird Helfen in Somalia immer gefährlicher. Der Überfall auf das Gelände in Wajid ist nur einer von vielen. Stunden zuvor war am Stadtrand von Mogadischu ein Mitarbeiter der somalischen Hilfsorganisation Daryeel Bulsho Guud, eines Partners der deutschen Hilfswerke Brot für die Welt und Diakonie, vor seinem Haus ermordet worden. Maskierte Männer fuhren in einem Jeep vor, schossen Omar Sheikh Ali in den Kopf und flohen. Shabaab-Anhänger hatten die Organisation zuvor aufgefordert, ihre Arbeit einzustellen. Im Juli erklärte die Shabaab die Tätigkeit von drei UN-Organisationen im Land für "verboten", weil sie "Feinde des Islam und der Muslime" seien. Betroffen waren das UN-Entwicklungsprogramm, die UN-Abteilung für Sicherheit und das Politische UN-Büro für Somalia.
"Vor einem Jahr konnte ich noch vollkommen unbehelligt durch Wajid joggen", erinnert sich Pedersen, der für die Versorgung von 1,3 Millionen Bedürftigen mit Wasser, Nahrung und anderer Nothilfe zuständig ist. Dann wurden ab Ende vergangenen Jahres in kurzem Abstand vier WFP-Mitarbeiter in anderen Teilen Somalias erschossen. Auf einmal war alles anders: "Wenn ich das Gelände danach verlassen habe, dann nur in Begleitung von einem guten Dutzend bewaffneter Leibwächter."
Obwohl Wajid von der islamistischen Shabaab kontrolliert wird, ist es weniger die Miliz, die Pedersen fürchtet. "Wir arbeiten eng mit den lokalen Machthabern zusammen", sagt er. "In der praktischen Zusammenarbeit spielt es keine Rolle, zu welcher Fraktion sie gehören - die Nahrungsmittellieferungen sind für alle Beteiligten zu wichtig."
Gefährlich, so glaubt Pedersen, sind die nomadischen Banden, die von niemandem kontrolliert würden und oft kriminelle Ziele hätten. "Wenn man fünf Millionen Dollar damit machen kann, indem man einen Ausländer entführt, ist das für verdammt viele Leute sehr verführerisch." So verführerisch, dass in Somalia derzeit immer noch 13 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in der Hand von Entführern sind. Sechs Angestellte der französischen Aktion gegen Hunger, die im November verschleppt wurden, kamen erst Anfang August frei.
Zu den unkontrollierbaren Kräften gehören auch ausländische "Gotteskrieger", vor denen Pedersen immer häufiger gewarnt werde. Solche Hinweise kämen selbst von Shabaab-Milizen. "Die sagen uns dann: ,Da kommt eine Gruppe, die wir nicht kontrollieren können, seid vorsichtig oder verschiebt eine Verteilung um ein paar Tage.'" Auch als in Wajid geschossen wurde, kämpften örtliche Milizen auf Seiten der WFP-Sicherheitskräfte. "Kürzlich wurden vier Mitarbeiter entführt", erinnert sich Pedersen. "Als die Menschen in Wajid das gehört haben, gab es so viel Druck, dass die Entführten ein paar Stunden später wieder frei waren."
Ein enges Verhältnis zu den lokalen Machthabern gleich welcher Couleur ist für das WFP die wichtigste Lebensversicherung. Denise Brown, die als stellvertretende Landesdirektorin die Arbeit in Somalia aus Sicherheitsgründen von Kenias Hauptstadt Nairobi aus koordinieren muss, lobt die Clanältesten. Auf ihrer letzten Reise in eine besonders berüchtigte Region im Süden Somalias hätten diese Ältesten sie vor einem Kommando gewarnt, das ihr auf der Spur gewesen sei.
Auch Brown weiß von den ausländischen Kämpfern auf Seiten der Islamisten, die westliche Helfer aus dem Land jagen möchten. "Aber ob die es sind oder jemand anderes, da spekulieren wir nicht - das ist es nicht wert", sagt Brown, die vor allem ihre Mitarbeiter schützen will. Nach den letzten Morden im Januar drohte das WFP mit der kompletten Beendigung aller Hilfslieferungen, sollten die lokalen Machthaber keinen Schutz garantieren. "Unsere Mitarbeiter haben hunderte Männer abgeklappert und sich schriftlich garantieren lassen, dass das WFP erwünscht ist und geschützt wird." Erst danach, erinnert sich Brown, sei die Angst der internationalen wie der somalischen Helfer so weit gesunken, dass normale Arbeit wieder möglich gewesen sei.
Doch nicht überall ist die Strategie aufgegangen. Somalias zweitgrößte Stadt Kismayo, die von einer besonders radikalen Shabaab-Gruppe kontrolliert wird, ist für das WFP Sperrgebiet. "Merka zwischen Kismayo und Somalia ist ebenfalls schwierig, da haben wir gerade erst wieder eine Verteilung absagen müssen", berichtet Brown. Aber in den meisten Fällen siege der Pragmatismus, man dürfe nur nicht die Geduld verlieren.
Das gilt nicht nur für die Verteilung vor Ort. Lebensmittel überhaupt nach Somalia zu bringen, ist bereits ein logistischer Albtraum. Den Hafen in Mogadischu erreichen die WFP-Schiffe erst, seitdem Militärschiffe der EU und der Nato die Schiffe vor Piraten schützen. Aus den Zentrallagern in Mogadischu werden dann Lastwagen bestückt, die auf eigene Faust zu den Zwischenlagern wie in Wajid oder zum Verteilungsort fahren. "Unsere Vertragspartner sind alle Somalis mit guten Kontakten", erklärt Ulrik Pedersen. "Irgendwie kriegen die es hin, selbst die gefährlichsten Orte zu erreichen."
Dass Hilfsgüter illegal auf den lokalen Märkten landen, weiß Pedersen. "Das sind vielleicht zehn Prozent", schätzt er. "Und die Verkäufe haben meist zur Folge, dass das Preisniveau sinkt, so haben wenigstens alle etwas davon." Auch mit den striktesten Kontrollen lasse sich ein gewisser Schwund nicht vermeiden.
Mit aller Macht zu verhindern sucht Pedersen jedoch, dass die Hilfsgüter als Machtmittel im Krieg missbraucht werden. "Wir haben als Bedingung gesetzt, dass bei den Verteilungen nicht mehr als ein Zehntel der Empfänger Männer sein dürfen", sagt er mit grimmiger Mine. "Die Frauen bringen das Essen heim zu ihren Kindern, die Männer sind es, die es an Milizen verkaufen oder Politik damit machen."
Einmal ließ er ein Dorf bei den Hilfslieferungen aus, nachdem dort Clanführer die Lebensmittel nur an Soldaten verteilt hatten. "Die waren sauer, haben mir gedroht, aber bei der nächsten Verteilung lief alles sehr ordentlich ab." Pedersen hat keine Illusionen: In den drei Jahren, die er in Somalia arbeitet, hat er sich bei weitem nicht nur Freunde gemacht. "Aber wir als WFP versorgen einen Großteil des Landes, und das gibt uns Macht", sagt er. "In der somalischen Gesellschaft habe ich den gleichen Status wie ein Warlord, und entsprechend handle ich - mit Erfolg."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!