Berliner Tagebuch: Riesenstreit im Keller
■ Berlin vor der Befreiung: 1. April 1945
Foto: J. Chaldej /Voller Ernst
Es gab einen Riesenstreit im Keller. Oles Vater hat mit Antje rumgeschäkert und sie zum Lachen gebracht. Da fing Frau Koser wieder an, ihre Greuelgeschichten zu erzählen. Was wohl die Russen mit dem kleinen Kind machen werden und so weiter. Oles Vater sagte, sie solle in unserer Lage nicht noch die Angst schüren. „Das sind auch Männer, die den Befehl zu kämpfen ausführen, und sie haben sicher auch kleine Kinder in ihrer Heimat“, sagte er.
Aber sie ließ nicht locker, und die anderen machten mit: „Man weiß doch, was die Horden der Bolschewiki alles gemacht haben: Dörfer abgebrannt, Frauen vergewaltigt, Gefangene totgeschossen und Kinder ermordet!“
Der alte Wichmann sagte: „Im Ersten Weltkrieg hat sich kein deutscher Soldat ähnliches zuschulden kommen lassen!“ Daraufhin wurde Oles Vater so saumäßig zornig, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Er schrie rum wie ein Wahnsinniger und erzählte Abscheulichkeiten, die unsere kämpfenden Truppen in den besiegten Ländern begangen haben sollen – so schlimm, daß sie wirklich fast nicht zu glauben sind. Und über Greueltaten, die in den Arbeitslagern vorkommen sollen, hat er auch berichtet. Also, da kann einen das kalte Grausen packen.
Sie haben Ole und seinen Vater aus dem Keller rausgeschmissen und gesagt, er könne das alles nur vom Abhören feindlicher Sender haben und er sei sowieso ein fieser Ausländer, den man hätte einsperren sollen. Evelyn Hardey
Aus: „... damals war ich fünfzehn“, Ensling-Verlag. Evelyn Hardey, geboren 1930, erlebte das Kriegsende in Wilmersdorf.
Recherche: Jürgen Karwelat
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