Richtungsdebatte in der Linkspartei: Der Preis der Stabilität
Die Linkspartei windet sich um die Frage, ob sie regieren will – aus Angst vor Konflikten. Dabei zeigt sie gerade in Berlin, dass sie es kann.
D ie Linkspartei ist auf dem besten Weg. Vor acht Jahren war sie tief zerstritten und in Ost und West geteilt. Jetzt hat sie sich in „eine kampagnenfähige gesamtdeutsche sozialistische Partei“ verwandelt, die frohen Mutes dem Wahljahr 2021 entgegenblickt. So sieht es Katja Kipping, noch Chefin der Linkspartei. Dieses Bild ist ein bisschen zu bonbonfarben. Manches hat sich verbessert, vieles ist bleischwer geblieben, zentrale Fragen sind ungelöst.
Für eine Organisation, die rhetorisch vor Veränderungswillen vibriert, ist die Linkspartei intern ziemlich strukturkonservativ. Entscheidungen, deren Folgen nicht vollständig kalkulierbar sind, werden, solange es geht, vermieden, grundsätzliche Streitpunkte ausgeklammert. Es regiert stillschweigend ein Sowohl-als-auch.
In der Linkspartei herrscht eine frostige Koexistenz von ziemlich unterschiedlichen Gruppen. Man findet sowohl Putin-Fans als auch Verfechter einer menschenrechtsorientierten Außenpolitik, radikale Antikapitalisten, die regieren für Verrat halten, und Profipolitiker, die von einer Mitte-links-Regierung träumen; blasse Technokraten, engagierte Sozialpolitiker und flammende Ideologen.
Das ist keineswegs neu, sondern seit der Fusion von PDS und Westlinken 2007 Normalmodus. Gerade weil die Gemeinsamkeiten rar sind, lässt man fundamentalen Fragen lieber beiseite: Explosionsgefahr. Die Wahlergebnisse geben diesem Kurs bislang recht. Bei Bundestagswahlen bekommt die Partei seit 2005 immer gut 8 Prozent (mit der Ausnahme von 2009, als Lafontaines Anti-SPD-Kampagne 12 Prozent brachte). Ob Sahra Wagenknecht den Kurs prägt, die Flüchtlinge und Rot-Rot-Grün skeptisch sieht, oder Katja Kipping, die das Gegenteil verkörpert – die Popularität der Linkspartei scheint das kaum zu berühren.
Das ist auch ein deutsches Phänomen. Das hiesige Parteiensystem ist, trotz geschrumpfter Stammwählerschaft, zählebig. Die Wähler misstrauen Neuem und wählen nur ungern die Regierung ab – seit 1949 nur zweimal. Diese Neigung zum Bekannten erstreckt sich offenbar auch auf die linke Opposition. Kurzum: Organisationslogisch verhalten sich die Genossen richtig.
Etliche Beispiele in Westeuropa zeigen, dass linke Parteien, die zu viele Kompromisse machen, in Regierungen pulverisiert wurden. Falls demnächst Janine Wissler (Westen, scharf regierungskritisch) und Susanne Hennig-Wellsow (Osten, in Thüringen Managerin von Rot-Rot-Grün) die Partei anführen sollten, liegt das auf der bekannten Linie: sowohl als auch. Doch langfristig hat der Hang zur Konfliktvermeidung seinen Preis. Die Unfähigkeit, zu entscheiden, ob man aktiver Teil einer Mitte-links-Regierung sein will oder eine Art verbeamtete Opposition, die auf wechselnden Empörungswellen surft, führt in politische Erstarrung.
Kein populistisches Momentum
Es gibt drei Trends, die nun andere Möglichkeiten zumindest andeuten. Der Linkspopulismus und Anti-SPD-Kurs von Lafontaine und Wagenknecht ist gestrig und in Coronazeiten unbrauchbar. Die SPD agiert in der Krise etatistisch, das Agenda-2010-Desaster ist langsam vernarbt. Wagenknechts Versuch, mit „Aufstehen“ eine soziale Protestbewegung aus dem Boden zu stampfen, endete als Farce. Von der Krise der SPD hat die Linkspartei kaum profitiert. Die Fundi-Linke hat keinen Wind unter den Flügeln und kein Thema, das jenseits ihrer Filterblasen interessiert.
Es gibt derzeit kein populistisches Momentum. Auch in der linken Klientel haben populistische Einstellungen, wie kürzlich eine Studie zeigte, seit 2018 drastisch abgenommen. In Postcorona-Krisenzeiten geht es um Sicherheit. Konkrete, machbare sozialstaatliche Absicherungen sind mehr gefragt als bloß antikapitalistische Empörungsrhetorik oder Anti-SPD-Rabulistik.
Zweitens: Berlin und Thüringen zeigen, dass die Linkspartei regieren kann, ohne sich damit zu ruinieren. Das gute Standing des linken Senators Klaus Lederer und Co. in Berlin ist das Ergebnis eines Lernprozesses. Das alte Rot-Rot-Modell, in dem die PDS gesellschaftliche Anerkennung via Regierungsbeteiligung mit politischer Unsichtbarkeit erkaufte, ist passé. Die Linkspartei ist in Berlin treibende Kraft in der Mietenpolitik. Die Kombination von modernem Habitus und auch mal radikaler Realpolitik funktioniert.
Drittens scheinen sich die verworrenen Konfliktlinien in Partei und Fraktion wieder rationaler zu ordnen. In der Ära Kipping/Riexinger wurde die Frontlinie zwischen Empörungsrhetorik und linker Realpolitik von zwei anderen Themen überblendet: Flüchtlinge und Milieus. Der Zoff um offene Grenzen schuf windschiefe neue innerparteiliche Lager. Manche Ostreformer verbündeten sich mit Wagenknecht, während im Kipping-Lager Fundis andockten, die mit Wagenknechts Migrationskurs über Kreuz waren. Dieses doppelte Hufeisen scheint sich langsam aufzulösen. Die alte Konfliktlinie zwischen Realpolitik und radikaler Rhetorik drängt wieder nach vorn. Damit steht die unbeantwortete Kernfrage wieder im Zentrum.
Ähnliches gilt für den Milieukonflikt: Hipster oder Hartzer, Bionade oder Bockwurst. Auch diese Frontlinie (die beides ist: im Feuilleton zugespitzt, aber auch real) verblasst derzeit. Die Milieus verschwinden nicht, aber sie verlieren an Prägekraft. In der Coronakrise beantragen auch Hipster Hartz IV. All dies kann Chancen öffnen – wenn die Linkspartei mögliche Bündnispartner nicht mehr vor das Schienbein tritt und besonnen, konkret und energisch für soziale Sicherheit kämpft. Ob dieser überfällige Klärungsprozess beginnt, wird der Parteitag Anfang November zeigen. Falls ja, würde der Teil, der nur Empörungspolitik betreibt, die Partei verlassen – was ein Segen wäre.
Umfragen zeigen übrigens schon lange, dass drei Viertel der Linkspartei-Wähler gern wollen, dass die Partei im Bund regiert. Die linke Anhängerschaft ist geduldig und offenbar enttäuschungsresistent. Aber jeder Langmut endet irgendwann.
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