: Revolutionsromantik oder Neuformierung
■ Ein Jahr Bürgerbewegung Demokratie Jetzt
DOKUMENTATION
Den eigentlichen Anstoß für den Aufruf zur oppositionellen Sammlungsbewegung vor einem Jahr gab die Fluchtbewegung der DDR-Bürger über die ungarisch-österreichische Grenze. Und auch hier hatten die gezielt gedrehten Reportagen des Westfernsehens entscheidend mobilisierenden Charakter. Seither dominiert politisch-psychologisch die Tendenz nach Westen. Wollten wir nicht völlig unglaubwürdig werden, mußten wir jetzt offen als politische Opposition auftreten. Ich werfe mir heute vor, damals den tiefsitzenden Trend nach Westen hin völlig unterschätzt zu haben. Im Frühherbst waren wir fixiert auf die Bedrohung durch das SED-Stasi-System einerseits und die Vereinnahmung durch bundesdeutsche Politik andererseits. So haben wir uns vorbeibewegt an den beiden zentralen Fragen: der Machtfrage und der nationalen Frage. Am Gründungsabend von Demokratie Jetzt, am 12. September 1989, sind beide Fragen nur am Rand besprochen worden. Martin König schlug vor, daß sich Demokratie Jetzt als programmatisch arbeitende Demokratie-Bewegung sofort als Teil des Neuen Forum erklärt, um ein Signal für eine einheitliche Oppositionsbewegung zu setzen mit dem Neuen Forum als Dach. Der soeben erschienene Aufruf zur Forum -Gründung erschien uns aber als zu schwach. Von heute aus betrachtet wird mir etwas flau, daß verschiedene Kräfte mit dem gleichen Ziel, die Opposition zu sammeln, auftraten: Neues Forum, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch. Leider setzte sich das Gruppengeklüngel aus den Spätzeiten der Friedensbewegung fort. Vor allem konnten sich Bärbel Bohley und Rainer Eppelmann im Frühsommer nicht über das Vorgehen einigen. Demokratie Jetzt trat die Flucht nach vorn an. Wir schlugen die Kontaktgruppe der oppositionellen Bewegungen und der SDP sowie den Runden Tisch vor. Damit war eine gemeinsame Machtbasis gegenüber der SED und ihren Blockflöten gefunden.
Wir haben uns an der Machtfrage vorbeibewegt
Die Revolution war vorüber, die Opposition sicherte die erste Übergangsphase auf dem Weg zu Marktwirtschaft und Einheit am Runden Tisch und mit Ministern in der Regierung Modrow. Wir ebneten anderen, den alten Kadern, den leidlichen Abgang von der Macht. Und Modrows undurchsichtige Politik rückte Kanzler Kohl und die DM vollends ins Bewußtsein und führte in die zweite Übergangsphase unter CDU/DA und anderen Koalitionären.
Die zweite zentrale Frage sprach Konrad Weiß an jenem Abend an, die Nationale. Damit waren wir schon an der zukunftsbestimmenden Problematik dran. Aber auch hier stellten wir uns nicht den realen Problemen. Aufeinander zu reformieren sollten sich unserer Meinung nach die deutschen Staaten. Wir hatten das Fiasko des realen Sozialismus unterschätzt. Kaum einer in Ost und West wollte bei einem solchen Reformprojekt mitmachen. Sturz von Modrow, Übernahme der Macht mit dem sauren Apfel des Kompromisses einer Beteiligung der Blockflöten CDU und LDP zum Zwecke der Einrichtung der Länder und Vorbereitung freier Landtagswahlen - das hätte eine gezielte Übernahme bundesdeutschen Rechts samt Auflösung der SED- und Stasistrukturen in den Bezirken und auf Republikebene ermöglicht. Als Modrow im Januar 1990 den Regierungseintritt der Opposition forderte, wäre eigentlich sein Rücktritt fällig gewesen. Aber die Opposition war sich wieder in jeder Hinsicht uneins. Was folgt daraus für die Zukunft?
1. Wir brauchen eine (selbst)kritische Auseinandersetzung um die Rolle der Bürgerbewegungen in den vergangenen Monaten, um uns in der anderen demokratisch-kapitalistischen Situation neu zu formieren.
2. Der Herbst 1989 hat es so gebracht: es gibt Bürgerbewegungen nur im Plural. Das Ansinnen des Neuen Forums, „Bürgerbewegung für alle“ sein zu wollen, kam zu spät und war zugleich unseriös formuliert. Zumindest hätten feste Plätze im Republiksprecherrat dieser Bürgerbewegung angeboten werden müssen.
3. Seit der scharfe Konflikt Bürgerbewegungen Einparteienstaat sich langsam zu unseren Gunsten entschied, ist aber auch unser öffentlicher Einfluß rapide gesunken. Es besteht die Gefahr, daß wir zu einer kümmerlichen parlamentarischen Opposition werden.
4. Das Bündnis von Bürgerbewegungen und Grünen zur gesamtdeutschen Wahl (und anderen Gelegenheiten) ist deshalb nicht das wichtigste. Wir sind auch nicht einfach eine Hilfstruppe für rot-grüne Träume, so wichtig sie sind. Das Parlament ist das Podium, von dem aus unsere Aktivitäten benannt und erläutert werden können. Mehrheiten sollten wir aber nach meinem Verständnis nicht durch unsere parlamentarische, sondern durch unsere außerparlamentarische Arbeit ansprechen und gewinnen.
5. Die Bürgerbewegungen werden die radikale demokratische Opposition sein. Opposition als umfassende und legitime demokratische Aufgabe der Gesellschaft - nicht als Teil, als Partei des Parlaments, sondern dem Parlament gegenüber.
6. Die Bürgerbewegungen sind m. E. heute auf ihren Ursprung, ihre eigentliche Initiation, ihr Spezifikum verwiesen und sollten dies als Chance - ohne verklärende Herbstromantik! auffassen. Das Neue Forum beispielsweise ist als Plattform und Aktionsbündnis aufgetreten und wird sich nicht durch programmatische Eindeutigkeit, sondern durch pfiffige Aktionswilligkeit wie etwa zur Stasi-Frage weiter behaupten. Bei Demokratie Jetzt liegt die Sache anders. Am Anfang stand ein programatischer Aufruf zur demokratischen Erneuerung.
7. Dieser Ansatz zielte auf gedanklich vermittelte Willensbildung, auf den dialogischen Konsens innovativer und oppositioneller Ideen und Kräfte.
8. Volksentscheid-Initative gegen die SED, Runde Tische, Verfassungsdebatte und Vorreiterrolle im Blick auf lokale und landesweite Bündnisse und anderes beweisen die erfolgreiche und integrative Arbeit von Demokratie Jetzt. Wir, die Engagierten, drohen uns aber in dem allgemeinen Auseinderdriften der Gesellschaft zu verzetteln anstatt diesen Differenzierungsprozeß positiv aufzunehmen. Deshalb, so denke ich, sollten wir zur ursprünglichen Idee des Runden Tisches, nämlich zum Runden Tisch zwischen demokratischen Bürgerbewegungen, Kirchen und Interessengruppen, zurückkehren. (Ludwig Mehlhorn fomulierte sie seinerzeit.)
Runde Tische auf allen Ebenen - aber nicht als Dauerinstitution
9. Demokratie Jetzt, heute, hier - das bedeutet, nun endlich das riesige und lähmende Vakuum zwischen Großparteien und Bevölkerung durch selbstbewußte politische Willensbildung kräftig mit Frischluft zu versorgen. Runde Tische auf allen Ebenen, an denen die hautnahen Konflikte und Interessengegensätze zur Sprache gebracht werden, brauchen wir jetzt.
10. Die jeweiligen Runden Tische sollten keine Dauerinstitution sein, sondern sachbezogen unter Hinzuziehung von Experten jeweils einmalig veranstaltet werden, zwei Vertreter von Bürgerbewegungen, Verbänden (Frauen, Arbeitslose, Bauern, Unternehmern usw.), Gewerkschaften, Kirchen bzw. kirchlichen Gruppierungen, sowie gegebenfalls örtlichen Betrieben und Vereinen verhandeln und anschließend werden die Ergebnisse der Presse vorgestellt.
11. Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt sollte sich neu als eine Initiativbewegung Runde Tische in ganz Deutschland formieren. Ich bin mir sicher, daß so den Lobbyisten und Parteihierarchen ihre oftmals trügerische Machtausübung vergehen wird, andererseits die Bürger aber ihr Urteilsvermögen aktivieren, durch das allein eine freie Gesellschat sich bestimmt.
Stephan Bickhardt
Der Autor ist Geschäftsführer der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“. Der Beitrag ist gekürzt.
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