Retrospektive US-Künstlerin Laura Nyro: Ketten sprengen mit dreieinhalb Oktaven
Laura Nyro erkämpfte das Genre Singer-Songwriterin für Künstlerinnen. Die opulente Retrospektive „Hear My Song“ zeigt, wie wichtig ihr Schaffen ist.
Sie war Singer-Songwriterin Nummer eins. Bevor Laura Nyro 1966 auf der Bildfläche erschien, gab es das Genre noch gar nicht. Es wurde erst von ihr in die Welt gehoben und definiert. Es folgten: Joni Mitchell (zwei Jahre später), Carole King (vier Jahre später). Judee Sill, Carly Simon, Phoebe Snow …
Laura Nyro hat sich diese Bühne, diesen Arbeitsraum ertrotzt. In Rockzirkeln wurde sie oft missverstanden, mitunter gar angefeindet. 27 Jahre nach ihrem frühen Tod 1997 nimmt die Auseinandersetzung mit ihrem Werk jetzt Fahrt auf, wird es von immer weiteren Kreisen langsam in seiner ganzen Größe wahrgenommen.
Dazu passend erscheint mit „Hear My Song: The Collection 1966–1995“ fast ihr komplettes Werk in einer opulent ausgestatteten 19-Alben-Box. Laura Nyro wurde am 18. Oktober 1947 in New York als Laura Nigro geboren. Sie wuchs in der Bronx auf und „war kein fröhliches Kind“, wie sie sich später erinnerte.
Klavierlernen im Selbststudium
„Ich schuf mir meine eigene kleine Welt, eine Welt der Musik, seit ich fünf Jahre alt war“. Nyro brachte sich selbst das Klavierspiel bei und schulte ihren Musikgeschmack an Jazzplatten von Nina Simone, Judy Garland und Billie Holiday aus der Sammlung ihrer Mutter. Als Teenager begann sie mit Freunden Doo Wop auf Partys, an Straßenecken oder in U-Bahn-Stationen zu singen. Und sie begann zu komponieren: Ihren Song „Eli’s Coming“ spielte sie selbstbewusst ihrem Musiklehrer vor, um zu beweisen, dass zeitgenössische Popmusik nicht immer nur Mist sein muss.
Laura Nyro: „Hear My Song – The Collection 1966–1995“ (Madfish/Edel)
Es war schließlich ihr Vater, der ihre Karriere in Bewegung setzte. Weil als Jazztrompeter nicht so viel zu verdienen war, verdingte sich Louis Nigro immer wieder auch als Klavierstimmer. Einer seiner Kunden war der mittel erfolgreiche Impresario Artie Mogull, dem er so lange vom Talent seiner Tochter vorschwärmte, bis der Laura Nyro zu einem Vorspielen einlud.
Die Aufnahmen der Audition wurden unter dem Titel „Go Find The Moon (The Audition Tapes)“ 2021 zum ersten Mal veröffentlicht und finden sich auch in der „Hear My Song“-Box: Man hört Mogull sie irgendwann etwas irritiert fragen: „Und du singst nur Eigenkompositionen?“ Und nachdem sie entschieden „Ja!“ geantwortet hat, fällt Laura Nyro ein, dass das karrieretechnisch vielleicht nicht die klügste Antwort war und versucht sich an Broadway-Klassikern wie „When Sunny Gets Blue“ und „Kansas City“, die sie gesanglich souverän meistert, bei denen sie allerdings die Piano-Begleitung nicht parat hat.
Hinreißendes Vorspiel
Was vielleicht dazu führt, dass sie auf ihrem Debütalbum, das aus dieser Audition entspringt, zu ihrem Kummer nicht selbst Klavier spielen darf. Es wurde im Januar 1967 unter dem beknackten Titel „More Than a New Discovery“ veröffentlicht und ist dennoch eine hinreißende Produktion.
Die zwölf Songs des Albums schlagen eine neue Seite im Buch der Popmusik auf. Knappe Porträts doofer Jungs („California Shoeshine Boys“) und verschlagener Mädchen („Lazy Susan“), dazu quasi ihr Themensong „And When I Die“, in dem sie singt: „Give me my freedom / For as long as I live / All I ask of living / Is to have no chains on me“.
Musikalisch ist das eine Art weiterentwickelter sophisticated Sixties-Girl-Pop, in dem eine Menge Jazz, Blues, Gospel und Broadway steckt. Das Ganze gesungen von ihrer mächtigen Dreieinhalb-Oktaven-Stimme, über die die britische Musikjournalistin Lilian Roxon in ihrer „Rock Encyclopedia“ 1969 schrieb: Laura Nyro „ist eine 20-jährige weiße New Yorkerin, die singt wie eine 55-jährige Schwarze aus Mississippi.“
Mit der Kraft aller Altersgruppen
„Nyro schlug zu mit der Kraft aller Altersgruppen auf einmal“, schreibt auch die britische Musikerin und Autorin Vivien Goldman in den Linernotes zu „Hear My Song“: „Sie verzauberte ihr Publikum mit der Anmut eines jungen Mädchens und der Weisheit einer Prophetin.“
Das Debütalbum war aber nur eine Vorstufe. Nyro nutzte den Ruhm und die Erfahrung, um danach eine Trilogie von Alben zu veröffentlichen, die eigentlich den Kern ihrer Kunst enthalten: „Eli and the Thirteenth Confession“ (1968), „New York Tendaberry“ (1969) und „Christmas and the Beads of Sweat“ (1970).
Hier tritt die charmante Mädchenhaftigkeit des Debüts immer mehr in den Hintergrund, es wird düsterer und vor allem dramatischer. Die Songs sind Miniopern voller unerwarteter Tempo- und Tonartwechsel, kunstvoll durchkomponiert und -arrangiert. Danach nahm sie sich erst mal eine Auszeit.
Viel gecovert, mit Erfolg
Laura Nyro hatte nie einen Hit. Ihre erfolgreichste Single war ironischerweise eine ihrer wenigen Coverversionen: Mit dem Carole-King-Song „Up on the Roof“ landete sie 1970 immerhin auf Platz 92 der „Billboard Hot 100“. Dafür brachten eine Reihe anderer Künstler*innen ihre Songs in die Charts.
Das Pop-Gesangsquintett The Fifth Dimension coverte mehrere Songs von ihren ersten beiden Alben, kam mit „Stoned Soul Picnic“ bis auf Nummer drei der Hot 100 und mit dem „Wedding Bell Blues“ sogar auf die Spitzenposition, Three Dog Night hievten „Eli’s Coming“ mit virilem Gebrüll in die Top 10, Grönemeyer-Vorbild David Clayton-Thomas knödelte „And When I Die“ mit seiner Band Blood, Sweat & Tears auf Nummer zwei, während es Barbra Streisand mit „Stoney End“ auf Platz 6 schaffte.
Auch wenn alle diese Aufnahmen im Vergleich mit den Originalen gezähmt und banalisiert klangen, war Laura Nyro auf einen Schlag eine der erfolgreichsten Songschreiberinnen der späten 1960er Jahre.
Nicht nachschrubbar auf der Wandergitarre
Allerdings ließen sich ihre Songs nicht wie etwa die meisten Dylan- und auch viele Beatles-Songs schnell auf der Wandergitarre nachschrubben, sondern man benötigte schon eine gewisse musikalische Kompetenz, die über das Rock-Abc hinausging, und am besten auch eine größere Besetzung.
Rickie Lee Jones
In der zu jener Zeit hegemonialen Hippie- und Rock-Szene führte das allerdings auch zu einer gewissen Reserviertheit, einem Misstrauen: Für relaxte Spontaneität und bekiffte Improvisation war in Laura Nyros Musikwelt schließlich kein Platz.
Ihre Spätwerke hatten nicht mehr die manische Intensität und weniger von der Exzentrik ihrer Frühzeit. Sie war nun eine reife, nachdenkliche Singer-Songwriterin, die kunstvolle Jazz-Pop-Miniaturen schrieb. Ihre Songtexte waren weniger persönlich, dafür stärker politisch: „Meine Mutter und meine Großmutter waren progressive Denkerinnen“, kommentierte sie selbst. „Ich fühlte mich immer zu Hause in der Friedensbewegung und in der Frauenbewegung.“
Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss, den Laura Nyro auf andere Musiker*innen hatte und immer noch hat. Todd Rundgren erzählt, dass er, als er Nyro und ihre Musik kennenlernte, aufhörte zu versuchen, Songs im Stile von The Who zu komponieren, und zu versuchen begann, Songs wie Laura Nyro zu schreiben. Nyros Singer-Songwriter-Kollegin Rickie Lee Jones gesteht: „In dem Moment, in dem ich mich in Lauras Musik verliebte, fing ich an, mich selbst etwas mehr zu lieben.“
Laura Nyros Einfluss ist unüberhörbar in der Musik von Kate Bush, Suzanne Vega, Fiona Apple, Holly Cole, Joanna Newsom, St. Vincent, Weyes Blood und vielen anderen zeitgenössischen Künstlerinnen. Und auch ein Sir Elton John verrät im Booklet: „Sie hatte so einen großen Einfluss auf mein Songwriting in den frühen 1970ern […] Ich verdanke ihr sehr viel.“
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