Reservebetrieb von Atomkraftwerken: Etliche Grüne für Habeck-Bremse
Ist der Streckbetrieb wirklich nötig? Nach dem Vorpreschen des Wirtschaftsministers fordern Abgeordnete ein Mitspracherecht und gesetzliche Kriterien.
![Der Kühlturm des Atomkraftwerks Isar 2 siegelt sich im Wasser Der Kühlturm des Atomkraftwerks Isar 2 siegelt sich im Wasser](https://taz.de/picture/5821243/14/30896221-1.jpg)
„Ich rate dazu, nicht vor dem Vorliegen eines Gesetzentwurfs schon das Ergebnis des in dem Gesetz vorgesehenen Verfahrens zu verkünden“, sagte Jürgen Trittin – als Ex-Umweltminister einer der größten grünen Kritiker*innen von Laufzeitverlängerungen – am Donnerstag der taz. „Es könnte sonst der Eindruck der Voreingenommenheit entstehen.“ Trittin verwies darauf, dass es nicht nur an der Lage in Frankreich liege, ob deutsche Atomkraftwerke wirklich weiterhin gebraucht würden.
Als das Wirtschaftsministerium im Sommer in einem Stresstest ausrechnen ließ, ob die Atomkraft länger gebraucht wird, rechnete es tatsächlich noch mehr Faktoren hinein. In den kalkulierten Extremszenarien waren nur wenige Kohlekraftwerke aus der Netzreserve an den Markt zurückgekehrt. Außerdem wurde davon ausgegangen, dass wegen niedriger Flusspegel zu wenig Kohle angeliefert werden könne und dass die Stromnetze zusätzlich belastet seien, weil sich zu viele Menschen elektrische Heizstrahler zulegten.
Alle vier Kriterien tauchen auch in der Vereinbarung zum Reservebetrieb auf, die das Ministerium diese Woche mit den Kraftwerksbetreibern geschlossen hat.
„Seriosität gebietet es, alle diese Kriterien einem gründlichen ‚Monitoring‘ – so die Eckpunkte – zu unterwerfen, anstatt auf der Basis von Annahmen vermeintliche Ergebnisse zu verkünden“, sagt Trittin jetzt.
Nicht überzeugt
Während einer Pressekonferenz am Dienstagabend hatte Habeck seine neue Lageeinschätzung vorgestellt. Die Grünen-Abgeordneten hatte er erst unmittelbar zuvor in einer Fraktionssitzung informiert. Dem Vernehmen fühlten sich viele der Anwesenden überrumpelt. Zur Begründung soll Habeck auch in der Fraktion nur auf die AKW-Ausfälle in Frankreich verwiesen haben und selbst seine Ausführungen dazu empfanden viele Abgeordnete nicht als überzeugend. Bis hinauf in den Fraktionsvorstand wird Habecks Atomkurs ohnehin schon seit längerem kritisch gesehen.
„Es ist richtig, dass Robert Habeck auf die schlechte Situation in den französischen Atomkraftwerken hinweist. Das zeigt, dass Atomkraft nicht zuverlässig ist“, sagt Jan-Niclas Gesenhues, der umweltpolitische Sprecher der Fraktion. „Ob der Streckbetrieb kommt oder nicht, muss dann entschieden werden, wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen. Aus den jetzigen Szenarien folgt noch kein Automatismus, die Reserve zu ziehen.“ Das Gesetz und die Kriterien für die Einsatzreserve würden „im Parlament gemacht“.
Aktuellen Planungen zufolge soll der Bundestag die nötigen Gesetzesänderungen in der dritten Oktoberwoche beschließen, unmittelbar nach dem Grünen-Parteitag. Bis dahin sind noch etliche Detailfragen zu klären. Es geht nicht nur darum, welche Kriterien für den Einsatz der Reserve im Gesetz festgeschrieben werden und wie präzise sie formuliert sein müssen. Hinzu kommt die Frage, wer zum Jahresende abschließend beurteilen darf, ob die Bedingungen eingetreten sind: Die Regierung oder das Parlament?
„Wir sollten alle Kriterien aus dem Stresstest und klare, überprüfbare Parameter im Gesetz verankern“, sagt dazu der Haushaltspolitiker Sven-Christian Kindler. „Damit stellen wir klar: Die Reserve wird nur dann im äußersten Notfall genutzt, wenn alle anderen Maßnahmen nicht ausreichen. Dass der Bundestag abschließend über den Einsatz der Reserve aktiv zustimmen muss, ist für mich ohnehin klar.“
Die Vorstellungen des Wirtschaftsministeriums sehen anders aus: Es hat schon Anfang September nach Ende des Stresstests einen Variante präsentiert, demzufolge die Regierung die Kraftwerke auf Vorschlag des Ministeriums per Verordnung zurück ans Netz bringen dürfte. Der Bundestag hätte nur ein Veto-Recht, müsste also aktiv widersprechen. Dass es für so einen Einspruch inner- oder außerhalb der Koalition eine Mehrheit gäbe, ist extrem unwahrscheinlich. Die Regierung würde sich in dieser Variante also eine weitere Parlamentsdebatte ersparen – und hätte bei der Entscheidungsfindung viel mehr freie Hand.
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