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Reiche Gesellschaft - arme Natur ?

■ Ein Plädoyer für die Rückkehr der Natur in die Gesellschaft / Der Reichtum der Industrie ist nichts anderes als ein Beutezug durch die Lager der Natur

Von Hans Immler

Zu seinem Ende hin hat es unser Jahrhundert plötzlich sehr eilig. Mit unerwarteter Geschwindigkeit und Radikalität räumt es die Ruinen jener Ereignisse weg, die wie Meilensteine den Verlauf der jüngsten Geschichte bestimmt haben: der Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus, der Ost-West-Konflikt, die Nachkriegsordnung.

Der rasche Zerfall alter Wertvorstellungen und das Auftürmen vieler ganz neuartiger Probleme im Zusammenleben der Menschen verweist auf eine epochale Zeitenwende. Wir stehen mitten in ihr, aber wir verstehen sie noch gar nicht, geschweige denn, daß wir sie beherrschen. Aber sie stellt uns vor Konflikte bisher unbekannten Ausmaßes: Genau die Methoden, durch welche die Industriegesellschaften in den vergangenen 200 Jahren ihre technologischen Fortschritte und ihre wirtschaftlichen Erfolge erzielt haben, werden jetzt zur Ursache für die tiefste Krise, in die sich die moderne Menschheit selbstverschuldet hineinmanövriert hat. Der zivilisatorische Versuch, das individuelle und gesellschaftliche Leben angenehmer, reicher und gerechter zu gestalten, hat einen hohen Preis, der uns erst langsam bewußt wird.

Die Industriegesellschaften verdanken ihre technisch -ökonomischen Fortschritte einem produzierenden und konsumierenden Verhalten, das sich jetzt immer mehr als Krieg gegen die Natur herausstellt. Und dieser Krieg beginnt allmählich, die Maßstäbe menschlichen Zusammenlebens in radikaler Manier an sich zu reißen.

Bei aller Unübersichtlickeit der entstandenen Lage läßt sich eines mit Sicherheit sagen: Wir haben uns in historischer Dimension über die Rolle der Natur in der modernen Gesellschaft getäuscht. Der Reichtum der Industrie war und ist nichts anderes als ein grandioser Beutezug durch die gefüllten Lager der Natur. Das entscheidende Problem ist aber weniger, daß wir diese Lager geräumt haben, als vielmehr, daß wir im Namen des technologischen Fortschritts die Mechanismen verändert haben, die diesen physischen Reichtum hervorbringen. Die industrielle Tätigkeit provoziert damit den Umschlag von der Produktivität der Natur in deren Destruktivität gegen das menschliche Leben. Nicht eine verarmte Natur wird unser Zukunftsproblem werden, sondern eine reiche, aber pervertierte und aggressive gegen uns.

Die moderne Industriegesellschaft versteht sich vor allem als Arbeitsgesellschaft. Die Fähigkeiten der menschlichen Arbeit werden deshalb in besonderer Weise für den zivilisatorischen Erfolg verantwortlich gemacht. Beachtet man aber, auf welche Art die menschliche Arbeit im industriellen Prozeß auf die äußere Natur einwirkt, dann entstehen doch Zweifel, ob das Hohelied auf die Arbeitsgesellschaft angebracht ist.

Zunächst fällt auf, daß in unserem industriellen Denken die menschliche Arbeit genau jenes Sezierinstrument darstellt, das Natur von Kultur und Gesellschaft trennt. Materie wird von uns solange zur Natur gerechnet, wie sie unbearbeitet, vom Menschen unberührt ist. Wenn aber Materie durch Arbeit umgeformt wird, verläßt sie die Sphäre der Natur und wird zum Produkt. Der kategoriale Gegensatz von Industrie und Natur ist so gesehen jener von bearbeiteter und unbearbeiteter Natur.

Was ist aber von der Vernunft einer Gesellschaft zu halten, die in der Bearbeitung von Materie einen Prozeß der Denaturierung, das heißt der Beseitigung von Natur erkennt? Da jede Arbeit zwangsläufig einen Prozeß der Materieumformung darstellt, begibt sich die Industriegesellschaft der Natur gegenüber in einen hoffnungslosen, ja tödlichen Widerspruch: Ihre Tätigkeit als Arbeitsgesellschaft ist ein fortgesetzter Prozeß der Naturvernichtung. Wo menschliche Arbeit das Feld betritt, weicht die Natur. Entwickelte Industrie ist gleichzusetzen mit verschwundener Natur.

Einem durch Arbeit erzeugten gesellschaftlichen Reichtum muß daher eine an Natur arme Gesellschaft entsprechen. Und dies sind keineswegs die bösen Worte eines Industriekritikers, sondern es ist das Ergebnis der immanenten Logik der Industrie.

Vor dem Hintergrund einer dermaßen denkenden Vernunft kann das Wirken der Industrie auf die Natur kaum mehr verwundern. Die industrielle Arbeit hat sich selbst einen moralischen Freipaß für die fortgesetzte Folter am Körper der Natur verschafft. Indem sie die Eingriffe in diesem produzierenden Körper gar nicht mehr als Eingriffe in die Natur versteht, wird ihr die maßlose Ausschlachtung der darin enthaltenen Produkte und Produktivitäten zum zentralen Sinn gesellschaftlicher Tätigkeit. Die Zerstörung des physischen Körpers der Gesellschaft gerät zur Produktion gesellschaftlichen Reichtums. Die Effizienz der Industriegesellschaften drückt sich demnach gerade nicht darin aus, wie sie ihre physischen Produktivkräfte erhalten und zum Wohle der Menschen steigern kann, sondern darin, wie durch Arbeits- und Maschineneinsatz eine höchstmögliche Ausbeute denaturierter Naturqualitäten erfolgt. Das maßlose Schöpfen aus dem Reichtum der Natur wird als wirtschaftliche Wertschöpfung identifiziert. Kein Wunder, daß es uns so gut geht. Uns geht es ja am besten, wenn alle Natur erschöpft ist.

Aber alle diese industriellen Siege über die Natur, das weiß heute jedes Kind, sind letztlich weniger als Pyrrhussiege. Nichts ist so sicher wie die Aussage, daß im Kampf zwischen Industrie und Natur die letztere die Oberhand gewinnen wird. Eine Gesellschaft, die ihren Reichtum und ihre Zukunft in der gedanklichen und realen Vernichtung der Natur erkennt, hat keine Aussicht auf ein langes Leben. Die immer heftiger, komplexer und globaler werdenden Merkmale der ökologischen Krise sind die deutlichen Signale dafür, daß die verletzte Natur in beschleunigendem Maß die Lebensnerven der Industriegesellschaften zu attackieren beginnt. Damit stellt sich aber in schon dramatischer Weise die Frage nach der ökologischen Reformfähigkeit der Industrie.

Wirtschaft und Gesellschaft der Zukunft werden ihre Ökonomie und Technologie nicht mehr gegen die Natur organisieren dürfen, schon gar nicht wird es ihnen erlaubt sein, wirtschaftliches Wachstum durch ruinösen Abbau von produzierendem Naturvermögen zu erzielen. Nur jene Industriegesellschaft hat eine Überlebenschance, der es gelingt, den wirtschaftlichen Krieg gegen die Natur zu beenden und eine Oikonomia mit der Natur zu begründen.

Die Rückkehr der Natur in die Gesellschaft ist also keineswegs gegen die Interessen der Wirtschaft gerichtet, wenn man unter Ökonomie die verantwortliche Hege und Pflege der fruchtbaren Quellen eines Landes bzw. der Erdökosysteme versteht. Sie ist in ihrem Kern eine elementare wirtschaftliche Aufgabe. Es wäre eine Katastrophe, sich die Gesellschaft der Zukunft mit zwei Abteilungen vorzustellen, wobei der Abteilung „Ökonomie“ die blinde Aneignung der physischen Ressourcen, dagegen der Abteilung „Ökologie“ die Reparaturarbeiten an der geschundenen Natur zufielen. So funktioniert die zukünftige Wirtschaft nicht.

Ob die Rückkehr der Natur in die Gesellschaft gelingen wird oder nicht, hängt wesentlich davon ab, ob sich die Produzenten und Konsumenten bewußt werden, daß jede ihrer wirtschaftlichen Handlungen ein Stück Naturgestaltung darstellt. Wir werden genau die Natur erhalten, die wir verdienen, das heißt, unsere Produktion und Konsumtion werden der Materie die Gestalt geben, die das menschliche Leben erfreut oder belastet, verlängert oder verkürzt. Aus diesem Grund sind Produktion und Konsumtion die strategischen Ansatzpunkte für eine ökologische Reform der Industrie. Wenn es hier nicht zu tiefgreifenden Verhaltensänderungen kommt, sind alle Aufrufe zu ökologischen Reformen nur Gerede.

Man darf sich aber auch nicht über die Dimension des anstehenden Reformprojekts täuschen. Die Rückkehr der Natur in die Gesellschaft bedeutet das Ende der bisherigen industriellen Methoden, Produkte und Werte zu erzeugen. Es ist nicht damit getan, Grenzwerte zu erhöhen, Verursacher anzuklagen und Appelle zu verkünden.

Die gefährlichste Form der ökologischen Krise ist wahrscheinlich gar nicht die Vergiftung von Wasser, Luft oder Boden, sondern die industrielle Verbannung der Natur aus dem Bewußtsein der Gesellschaft. Sie führt dazu, daß wir gar nicht merken, was wir anrichten. Deshalb müssen wir damit beginnen, die tragenden Balken unseres Lebensgebäudes wieder mit physischer Substanz zu füllen.

Produktion, Arbeit, Technik, Einkommen und Vermögen, Markt und Plan, Wachstum und Entwicklung, all dies sind Kategorien unseres individuellen und sozialen Lebens, die entgegen der bisherigen Ansicht sehr viel mit Natur zu tun haben. Sie gilt es, ökologischen Kriterien zugänglich zu machen. Eine leitende Maxime erleichtert die Suche nach dem ökologischen Reformpfad: Wir haben bisher gemeint, die Verbindung von Natur und menschlicher Arbeit führe zu Nicht-Natur, zu Industrie. Wir sind dann auf dem richtigen Weg, wenn die Verschmelzung von Natur und menschlicher Arbeit wieder den Namen Natur verdient.

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