Regisseurin über Film "Winters Bone": "Er schoss in die Luft, ohne ein Wort"
Debra Graniks Spielfilm "Winters Bone" erkundet die Ozark-Berge der USA. Ein Gespräch mit der New Yorker Regisseurin über Chrystal Meth, Traktoren und tröstendes Tierfell.
taz: Frau Granik, Ihr Film spielt in den Ozark-Bergen in Missouri. Was ist das für eine Gegend?
Debra Granik: Es ist kein Hochgebirge, die Landschaft ist eher hügelig. Geschichtlich betrachtet, bedeutet die Besiedlung dieser Gegend Rückzug und Abgeschiedenheit, und zwar durchaus selbstgewählt, da man dem Zugriff der Bundesbehörden entkommen wollte. Es gibt ja diesen Begriff "Hillbilly", der, obwohl er sehr herabsetzend gemeint ist, für viele Leute eine erstrebenswerte Stellung bezeichnet, weil diese Stellung große Unabhängigkeit mit sich bringt.
Worin drückt sich das denn konkret aus?
Zwei Monate nach den Dreharbeiten zum Beispiel rief mich ein Mädchen an, das im gleichen Alter ist wie meine Tochter. Wie sie sprach, war vollkommen anders, als meine Tochter sprechen würde, sie benutzte eine Menge Adjektive, die ich nie verwende, und redete davon, wie neu geborene Tiere an den Zitzen der Mutter saugen. Außerdem gibt es eine Kultur der Jagd, die ganz anders ist als an der Ostküste, sie hat nämlich mit Sport nichts zu tun, und auch die Häuser sind ganz anders. Und zwar nicht nur, weil die Leute wenig Geld haben, sondern vor allem weil ihre Unterkünfte zusammengestückelt sind, zum Teil handgebastelt.
"Winters Bone" legt viel Wert darauf, dieser besonderen Umgebung gerecht zu werden. Das passiert ja nicht einfach so, sondern muss von Ihnen hergestellt werden. Wie ging das vonstatten?
Man kann nicht einfach an einen Ort fahren und ihn mit dem Filmteam plattwalzen. Unser erster Schritt war, uns mit dem Autor der Romanvorlage zu treffen, der in den Ozark-Bergen lebt. Er zeigte uns Orte, die er als Inspiration für das Buch benutzte, und er brachte uns auf die Idee, einen Guide zu suchen.
Die Ozark-Berge erstrecken sich über die Bundesstaaten Arkansas, Missouri, Oklahoma und Kansas im Herzen der USA. Eine entlegene Gegend, wo der Arm des Gesetzes entweder nicht hinreicht oder selbst mitmischt bei Schwarzmarkt und Drogengeschäften. "Winters Bone" beruht auf dem gleichnamigen Roman des ortsansässigen Autors Daniel Woodrell, Buch wie Film erzählen von einer jungen Frau, die für ihre Geschwister und ihre kranke Mutter sorgt, während der Vater, in die Herstellung von Chrystal Meth verwickelt, verschwunden ist.
Granik geht dabei sehr detailgetreu ans Werk, was ihrem Film eine ausgeprägt realistische Note verleiht. Doch je länger "Winters Bone" dauert, je mehr die Protagonistin dem Geheimnis des abwesenden Vaters auf die Spur kommt, umso stärker treten die Schauerelemente in den Vordergrund, so dass der Film zum schillernden Zwitter aus Milieustudie und Southern Gothic wird.
"Winters Bone". Regie: Debra Granik. Mit Jennifer Lawrence, John Hawkes u. a. USA 2010, 100 Min.
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Debra Granik
1963 in Cambridge, Massachusetts, geboren. Sie absolvierte ein Filmstudium an der New Yorker Tisch School of the Arts. Graniks erster Spielfilm, "Down to the Bone", gewann 2004 beim Sundance Festival den Preis für die beste Regie. Auch ihr Film "Winters Bone" hatte in Sundance Premiere und erhielt den Großen Preis der Jury sowie den Waldo-Salt-Drehbuchpreis.
Waren Sie jemals in den Ozark-Bergen, bevor Sie Daniel Woodrells Buch lasen?
Ich war einmal kurz in Missouri, auf einer Autofahrt von der West- an die Ostküste. Ich schaute mir eine Höhle an; Missouri ist voll davon. Die mystische Qualität dieser Landschaft voller Höhlen erregte mein Interesse. Nachdem wir den Guide gefunden hatten - er heißt Richard Michael -, ging er mit uns von Tür zu Tür und sagte: "Hier sind ein paar Leute aus New York, hört sie euch mal fünf Minuten lang an."
Er hat für uns gebürgt, und er fand eine Familie, die uns mehrere Male empfing. Als wir zum sechsten Mal dort waren, fingen sie an zu begreifen, dass wir es ernst meinten. Wir machten Aufnahmen vom Abendessen, vom Holzhacken, von den Häusern und Schuppen. Und die Kinder fingen, an uns zu helfen.
Aber es sind nicht die Kinder im Film, oder?
Doch, ein junges Mädchen, Ashlee Thompson, spielt die kleine Schwester der Protagonistin Ree. Das Haus mit der Veranda gehört dieser Familie, genauso wie einige Requisiten und Fotografien, die wir im Film benutzen.
Wie ist es denn, wenn man mit professionellen Schauspielern und mit Laien, die man an Ort und Stelle castet, zusammenarbeitet?
Solange die Professionellen offen sind und echtes Interesse mitbringen, kann sich eine wirklich schöne, symbiotische Beziehung ergeben. Denn die Laien halten die Professionellen wach. Zum Beispiel John Hawkes: der ging in Bars, und weil er nicht so bekannt ist, dass er als Schauspieler erkannt würde, konnte er sich in Ruhe umschauen und umhören. So sah er, wie die Männer sich tätowieren lassen, was sie für Klamotten tragen, welche Körperhaltungen sie einnehmen.
Er konnte all diese Einzelheiten beobachten, die für ihn wichtig waren. Und wenn er mit einem Laiendarsteller drehte, blieb er aufmerksam, weil er nicht vorhersehen konnte, wie der Laie jeweils antworten würde. John musste dem Mann in die Augen blicken und reagieren. Das ergibt eine zusätzliche Schicht an Gefühl in den Szenen. Es kann natürlich auch eine Menge Schwierigkeiten bringen.
Welche zum Beispiel?
Wenn der Laiendarsteller plötzlich schüchtern wird, kann sein Herz zu schnell schlagen, und dann wird es sehr schwierig.
Und dann? Unterbrechen Sie dann den Dreh?
Manchmal kann man die Zügel noch herumreißen. Aber manchmal muss man zu einer anderen Szene springen.
"Winters Bone" wirkt auf den ersten Blick sehr realistisch. Je länger der Film dauert, umso mehr Schauermotive fließen in ihn ein. Können Sie etwas über diese Kombination sagen?
Die Grundlage dafür, dass wir uns mit unseren Kameras sicher fühlten, war, so viele Einzelheiten wie irgend möglich zu beachten. Die Höfe, die wir filmten, wollten wir zum Beispiel so belassen, wie sie waren. Einer dieser Höfe hatte eine unglaubliche Tiefe. Der Mann, der dort wohnte, hatte enorm viele verschiedene Teile von Traktoren gehortet, von denen er hoffte, dass er sie eines Tages reparieren würde. Am Anfang dachte ich: "Oh mein Gott, was ist mit dem bloß los?"
Aber dann war ich berührt von dem Ehrgeiz, all diese Fahrzeuge zu reparieren. Wir drehten also auf seinem Hof mit den 18 Traktoren, jeder in einer anderen Farbe, mit dem Wind, der die Wäsche aufwirbelte, mit dem Ofen, der draußen stand und irre hässlich war. Das machte visuell wirklich viel her, denn es hatte alles, wonach Kameraleute sich sehnen: Rauch, Wind, Tiefe. Und dann ist da diese Szene auf dem Boot …
Eine Schlüsselszene, die nachzuerzählen zu viel verraten würde …
Sie lag eigentlich weit jenseits dessen, was ich erzählen und filmen kann. Aber wenn ich Woodrells Buch treu sein wollte, konnte ich sie nicht auslassen. Ich habe mich damit beruhigt, dass ich an Märchen dachte, gerade an deutsche Märchen, in denen man einen Gegenstand aus dem Wald zurückbringen muss.
Märchen verhandeln ja auch sehr oft gestörte Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.
Ja, und da kommt Chrystal Meth ins Spiel. Oder überhaupt jede Art von Droge, die Menschen daran hindert, ihrer Verantwortung nachzukommen. Vor Ree wird nie verborgen, dass ihr Vater, ihr Onkel und andere Mitglieder ihrer Familie entweder finanziell oder wegen ihrer Abhängigkeit in die Drogenszene verwickelt sind. Ich glaube, das ist etwas Universelles: der Aufschrei von Kindern, deren Eltern süchtig sind. Und bei Chrystal Meth ist es besonders fürchterlich, die Menschen gehen so schnell zugrunde.
Was auffällt, ist, wie wenig diese Familie miteinander spricht.
Ja, dieses Schweigegelübde ist ein Markenzeichen für solche Familien- und Verwandtschaftssysteme. Es gibt sehr strenge Regeln, was man sagen kann und zu wem. Und auch auf der Alltagsebene wird vieles nicht verhandelt. Ree sagt einmal zu ihren Geschwistern: "Bittet nicht um etwas, solange es euch nicht angeboten wird, selbst wenn ihr es braucht."
Glauben Sie, es ist charakteristisch für ländliche Gebiete, dass das Sprechen so stark reglementiert wird?
Ich glaube schon. An der Ostküste der USA ist es normal, Gefühle auszudrücken. In den Ozark-Bergen dagegen wird dich niemand fragen, wie es dir gerade geht. Einmal hatte der Kameramann die Erlaubnis bekommen, auf einem Hof Aufnahmen zu machen. Er verstand sich sogar gut mit dem Sohn. Als er fertig war, nahm der Vater ein Gewehr und schoss in die Luft, ohne ein Wort.
Tiere spielen eine große Rolle in "Winters Bone".
Ich dachte mir: Wenn jemand keinen Cent übrig hat, sich um seinen Bruder und seine Schwester kümmern muss und um ein Pferd, das 24 Stunden lang fressen kann, was macht er dann mit diesem riesigen Tier? Dass Pferde verhungern, ist ein großes Problem in den USA. Solange es den Familien gut ging, schafften sie sich Pferde an, vielleicht einfach nur zum Spaß, für die Kinder. Die Familie im Film hat das Pferd ja, seit es ein Fohlen war. Aber jetzt hat sich das Leben verändert, der Vater ist fort, das Geld ist alle, und dieses Pferd muss versorgt werden. Das ist eines der Hindernisse, mit denen Ree klarkommen muss. Und die Hunde, die waren dort …
Die Hunde gehörten der Familie, auf deren Hof Sie drehten?
Ja, sie bedeuteten den Leuten sehr viel, so dass ihre Anwesenheit etwas Selbstverständliches hatte. Und es kommt noch etwas hinzu: In einer schwierigen Geschichte haben Tiere etwas Aufbauendes. Aus welchem Grund auch immer fühlen wir uns getröstet, wenn wir Fell sehen.
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