Regisseur über kindliche Weltsicht: „Mach, was du willst“
Der Film „Sthalpuran“ zeigt, wie ein Kind die Welt sieht. Regisseur Indikar erklärt, wie sein Hauptdarsteller seinen Vater verliert.
Der achtjährige Dighu zieht mit seiner Mutter und seiner Schwester aus der Großstadt Pune an die indische Westküste. Der Vater hat die Familie verlassen. Was der Grund für die Trennung, das Fortgehen des Vaters ist, wissen die Kinder nicht. Dighu vermisst seinen Vater, gibt aber wie seine etwas ältere Schwester bald das Fragen auf. Sein Tagebuch hilft dem Jungen, Halt in der neuen Umgebung zu finden und mit dem Verlust und seiner Trauer umzugehen. Immer wieder zieht es ihn zum Nachdenken an die Meeresküste.
taz: Herr Indikar, in Ihrem Film nimmt die Tonspur eine ausgesprochen prominente Rolle ein. War Ihnen das schon bei der Planung wichtig?
Akshay Indikar: Für mich ist der Ton ein sehr wichtiger Teil des Kinos, mehr noch als die Bilder. Bilder sind etwas Zweidimensionales, wohingegen Ton es möglich macht, eine Vielzahl von Bedeutungen zu erzeugen und in den Zuschauern psychologische Reaktionen hervorzurufen. Wir wollten Tonstrukturen erzeugen, die im Publikum persönliche Erinnerungen wachrufen sollten. Wir wollten den Eindruck erwecken, dass wir uns in einem Raum bewegen. Das war einiges an Arbeit: Nur einige wenige Aufnahmen sind im Originalton zu hören, der Großteil der Tonspur wurde in der Postproduktion geschaffen.
Anders als in Ihrem ersten Film haben Sie bei „Sthalpuran“ mit Kindern als Schauspielern gearbeitet. War das für Sie ein großer Unterschied?
Akshay Indikar: stammt aus einer Familie von indischen Nomaden. Nach einigen Kurz- und Dokumentarfilmen feierte er 2019 mit „Trijya“ auf dem Shanghai International Film Festival sein Spielfilmdebüt. Derzeit entwickelt er bereits seinen nächsten Spielfilm, „Construction“.
Der Film: 28. 2., 11 Uhr, Cubix; 29. 2., 9.30 Uhr, Filmtheater am Friedrichshain
Ja. Mit Kinderdarstellern zu arbeiten ist eine Herausforderung. Man kann ihnen nicht direkt sagen, was man haben will. Man muss es in ihre Sprache übersetzen. Wir haben versucht, die Kindheitserinnerungen des Hauptdarstellers zu porträtieren, zu zeigen, wie ein Kind die Welt sieht, wie es Dingen begegnet. Wir zeigen seine Reise zum Erwachsensein und wie es auf die Veränderungen um sich herum reagiert. Ich habe dem Hauptdarsteller viel selbst überlassen und ihm gesagt: Mach, was du willst. Nach zwei, drei Einstellungen hat er dann einfach gemacht, was sich für ihn richtig anfühlte. Dann habe ich einen Zettel genommen und die Dinge notiert, die er nicht tun soll. Es gab ein paar Grundregeln: er durfte nicht mittendrin aufhören zu spielen; wenn ich „Cut“ rufe, sollte er 30 Sekunden warten; und oft habe ich gesagt, dass wir proben, das dann aber schon aufgenommen, weil es so weniger Druck hatte.
In einer Szene des Films sehen wir Schausteller in Kostümen, die ein Theaterstück aufführen.
In diesem Theaterstück geht es um Verlust und Tod. Dashavatar ist eine sehr verbreitete Form von Volkstheater in Konkan und den anderen Regionen an der Küste. Wir wollten klar machen, wie sich ein kleiner Junge die Welt erklärt. Auf seinem Weg zum Erwachsenwerden lernt er viel über Verlust und Leiden. Um das sichtbar zu machen, habe ich das Theaterstück in den Film eingeführt. Dieselbe Idee steckt hinter der Szene, in der die Schwester des Protagonisten Pluralformen lernt. Das macht jedes Kind in Indien, aber ich wollte damit zeigen, wie Wörter das Weltverständnis formen.
Wie ist das Verhältnis von Theater und Film in Indien?
Viele Filmschauspieler kommen vom Theater. Aber für mich ist eher die Zeitlichkeit von Kino interessant als seine Nähe zum Theater. Ich will nicht, dass meine Schauspieler spielen wie im Theater. Theater ist in Indien eher von Dramen dominiert. Ich wollte eher eine Bresson’sche Art des Schauspiels, naturalistischer als im Theater. Ich habe die Schauspieler weniger als Schauspieler genutzt, sondern einfach ihre Anwesenheit, habe sie einfach die Räume mit ihrer Präsenz füllen lassen.
Kannten die Schauspieler vor dem Dreh bereits die gesamte Handlung des Films?
Nein, auch währenddessen nicht. Niemand aus der Crew kannte die gesamte Handlung. Nicht einmal der Kameramann. Das ist alles erst im Schnitt zusammengefügt worden.
War das Ihr Konzept, so vorzugehen, oder hat sich der Film beim Drehen weiterentwickelt?
Die Grundlagen der Handlung waren da. Aber viele Details wie der Teil, der im Monsun spielt, haben sich erst später ergeben. Ich mag es, beim Dreh zu improvisieren. Ich habe eher auf die Räume reagiert, in denen ich mich beim Drehen bewegt habe, als dass ich alles vorher bestimmt hätte. Es gab zahlreiche Berührungspunkte zwischen dem Leben des Hauptdarstellers und der Rolle, die er in dem Film spielt. Sein Vater lebt nicht bei ihm, seine Eltern sind dabei, sich zu trennen. Ich habe also versucht, so viel wie möglich von seinen Anregungen in die Grundrisse der Handlung, die ich hatte, einzubauen. Er hat mir viele Erinnerungen und Geschichten erzählt. Ich habe zugehört und ihn und andere Kinder während des Castings befragt.
Standen die Dialoge im Drehbuch oder wurden sie auch improvisiert?
Die Dialoge waren von Anfang an da. Ich wusste, welche Szenen Dialog haben würden und welche nicht. Auch die Idee mit den Tagebucheinträgen existierte schon zu Beginn. Diese Einträge erklären nichts, sondern laden die Zuschauer ein, Bedeutungen zu finden, wie etwa bei dem Satz: „Der Weg zur Schule ist schöner als die Schule.“ Ich bin sehr von Satyajit Ray beeinflusst, von Nuri Bilge-Ceylan und Abbas Kiarostami und der Art, wie deren Filme die Psychologie von Kindern inszenieren. Aber an manchen Stellen wie mit den Darstellern aus dem Dorf, dem Großvater und anderen, haben wir nur die Situation beschrieben und sie aufgefordert, zu improvisieren. Eine ganze Reihe Szenen ist so entstanden. Nach fünf bis sechs Einstellungen haben wir dann entschieden, welche Dialoge drinbleiben und welche nicht. Nach etwa acht Einstellungen hatten wir die Szene dann so, wie wir sie haben wollten. Wir haben keine kurzen Einstellungen gedreht, sondern recht lange. Am Ende hatten wir insgesamt 70–80 Stunden Material.
Was bedeutet der Titel Ihres Films wörtlich?
„Sthalpuran“ kommt aus dem Sanskrit. Es heißt in etwa „Geschichte des Raums“ oder eher „der Räume“, in dem Sinne, dass jeder Raum seine einzigartige Geschichte hat. Es geht um die Einzigartigkeit von Räumen. Das Festival hat mir gerade gesagt, dass sie als deutschen Titel „Zeit und Raum“ gewählt haben, weil sie keine wirkliche Übersetzung des Titels finden konnten.
Dighus Familie zieht anfangs von der Stadt Pune aufs Land. Haben die beiden Orte eine besondere Bedeutung?
Es sind Gegensätze. Der Film wurde auf dem Land, in Goa, gedreht. Goa liegt an der Küste wie die Region Konkan, wo der Film spielt. Der Junge zieht von Pune, im Inland, an die Küste. Wir wollten auch das Leben in der Küstenregion zeigen, die Dörfer, die Schule.
Der Film ist durch Naturaufnahmen strukturiert. Warum?
Ich habe Elemente wie alleinstehende Bäume benutzt, um eine episodische Struktur, eine Musikalität zu erzeugen. Natur ist ein zentraler Teil in den beiden Filmen, die ich bisher gemacht habe. Es gefällt mir, die Figuren mit der Natur interagieren zu lassen. Wasser ist ein wiederkehrendes Motiv. In „Sthalpuran“ tritt Wasser als Regen auf, als Ton oder als Meer. Die Figuren sind entweder auf der Suche nach Wasser oder haben sehr viel davon. Ich habe versucht, mir beim Filmemachen Regeln zu setzen, und der Bezug zum Wasser ist eine davon. Wasser verbindet alle Menschen auf der Welt.
Ist Ihr Film in Indien kommerziell erfolgreich?
(Indikars Produzent, Sanjay Shetye, beantwortet die Frage:) Kommerziell funktioniert er nicht. Ich habe ihn aus Liebe zum Kino gemacht und weil mir die Geschichte gefiel.
Sie haben den Film den Menschen am Drehort gezeigt.
Ich will meinen Film nicht als „anderen Film“ darstellen. Das würde die Zuschauer nur belasten, wenn sie wissen, dass sie etwas anderes sehen, als sie gewohnt sind. Ich habe ihnen einfach nur gesagt: Es ist ein Film. Habt einfach etwas Geduld, er wird euch gefallen.
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