Regisseur über „Argentinien, 1985“: „Der Prozess war nur der Anfang“

Der Film „Argentinien, 1985“ rekonstruiert einen Strafprozess nach der Militärdiktatur. Regisseur Santiago Mitre über Aktentreue – und Humor.

Zwei Männer in Anzügen sitzen an einem braunen Holztisch mit Mikrofonen, einer streckt den Zeigefinger aus

Die Ankläger: Julio Strassera (Ricardo Darín) und Luis Moreno Ocampo (Peter Lanzani) Foto: Amazon Studios

Während der Militärdiktatur in Argentinien hatte sich Staatsanwalt Julio Strassera (Ricardo Darín) eher bedeckt gehalten. 1985 soll er, die junge Demokratie ist kaum zwei Jahre alt, das Verschwinden Zehntausender und die systematischen Folterungen und Ermordungen von Oppositionellen aufdecken. Gegen großen Widerstand, denn viele Verantwortliche sind auch nach dem Regimewechsel noch in Machtpositionen. Strassera stellt ein junges Team unerfahrener, aber hochmotivierter Mit­ar­bei­te­r*in­nen zusammen, die unter Hochdruck Zeugen und Beweise suchen, um die Verbrechen der Junta aufzudecken und hochrangige Militärs anzuklagen. Der erste Prozess dieser Art wurde zu einem der wichtigsten Momente in der argentinischen Geschichte seit der Rückkehr zur Demokratie. Regisseur Santiago Mitre inszeniert ihn, präzise recherchiert, als mitreißende Mischung aus Politthriller und Gerichtsdrama, ohne es zur Heldengeschichte zu verklären. Nach der Weltpremiere auf den Filmfestspielen von Venedig im September, wo „Argentinien, 1985“ mit dem Fipresci-Preis ausgezeichnet wurde, ist der Film nun auf Amazon zu sehen.

„Argentinien, 1985“. Regie: Santiago Mitre. Mit Ricardo Darín, Peter Lanzani u. a. Argentinien/USA 2022, 140 Min. Läuft auf Amazon

taz: Herr Mitre, als der Prozess 1985 stattfand, waren Sie fünf Jahre alt. Haben Sie Erinnerungen daran?

Santiago Mitre: Nur sehr verschwommen. Meine Mutter arbeitete ihr Leben lang in der Justiz, sie kannte Strassera und erzählte immer wieder von ihm. Ein Tag ist mir besonders in Erinnerung, weil meine Eltern sehr euphorisch waren und es nichts mit einem Fußballspiel zu tun hatte. Aber ich bin damit aufgewachsen, wir sprachen immer wieder davon. Erst viel später wurde mir bewusst, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich nicht mehr mit dieser Vergangenheit auseinandersetzt, dass die jüngere Generation oft gar nichts über die Gräuel der Diktatur weiß. Es ist beängstigend, wie viele Jugendliche in Argentinien heute rechte Positionen vertreten. Ich wusste, diese Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Auch um jüngeren Menschen klarzumachen, dass wir die Demokratie verteidigen müssen.

Warum ist der Prozess nicht präsenter?

Es wurde damals kaum darüber berichtet, für die Zeugen, die aussagten, war es sehr gefährlich. Denn die Leute, die sie oder ihre Angehörigen entführt, gefoltert und zum Teil ermordet hatten, waren auf freiem Fuß. Ich rede nicht von den Kommandeuren, sondern von den mittleren Militärs, die Befehle ausführten. Die Zeugen konnten also nicht ihre Gesichter zeigen, weil sie sonst um ihr Leben fürchten mussten. Sie mussten geschützt werden. Es gab nur Ausschnitte von Zeugenaussagen ohne Ton und von hinten gefilmt, so dass sie nicht zu erkennen waren. Erst später tauchten dann Aufnahmen auf, die inzwischen etwa auch auf Youtube zu finden sind.

Wie haben Sie recherchiert?

Ich las zwei Jahre lang Akten, sichtete Aufzeichnungen der Zeugenaussagen. Dabei stieß ich auf einige Aspekte, die mir bis dahin unbekannt waren, die Vorgeschichte der Ankläger, das junge und unerfahrene Team. Wir sprachen mit Journalisten, mit Politikern und mit den Protagonisten, den Mitgliedern der Staatsanwaltschaft, den Richtern, den Überlebenden und einigen der Personen, die in dem Prozess ausgesagt hatten. Strassera ist 2015 gestorben, aber sein Sohn und sein junger Kollege Luis Moreno Ocampo haben uns sehr geholfen.

Sie binden dabei stark das Familienleben Strasseras ein. Warum?

Mich hat die Familie als kleinster politischer Kern interessiert, weil ich das auch in meiner Kindheit so erlebt habe. Die Strasseras waren sehr vertraut miteinander, sein damals jugendlicher Sohn war fast täglich in der Kanzlei und half mit, auch seine Frau war sehr involviert. All diese Szenen sind natürlich fiktiv, aber sie basieren auf dem, was mir aus dem Umfeld erzählt wurde, und ich werde dem so weit wie möglich gerecht. Den Prozess selbst inszenieren wir sehr präzise anhand der Aufnahmen und der Protokolle. Alles, was gesagt wurde, ist schriftlich dokumentiert.

Trotzdem mussten Sie bei mehr als 800 Zeugenaussagen eine Auswahl vornehmen. Wonach haben Sie entschieden?

Einige Teile des Prozesses sind inzwischen fest im kollektiven Gedächtnis des Landes verankert. Das Schlussplädoyer Strasseras gehört dazu, aber auch die Aussage von Adriana Calvo de Laborde, die in Gefangenschaft und unter unvorstellbaren Umständen ihr Baby zur Welt bringen musste. Sie war nach den Politikern die erste Überlebende, die aussagte. Wie sie berichtet, was ihr angetan wurde, ist erschütternd, zugleich strahlt sie eine große Würde aus. Mir war klar, dass ihre Aussage zum Rückgrat und Herzstück unseres Films werden würde. Damals wurden alle Zeugen von hinten gefilmt, wir wollten auch zeigen, was sie fühlen. Also drehten wir frontal, aber mit der gleichen Kamera, die damals im Prozess benutzt wurde, und inszenierten es so, dass wir problemlos zwischen unseren Szenen und dem echten Archivmaterial wechseln konnten.

Wie haben Sie zwischen Gerichtsdrama, Politthriller, Familiengeschichte und den bisweilen komischen Momenten die Balance gefunden?

Strassera war ein kauziger Typ mit einem sehr eigenen, trockenen Humor, und das wollten wir auch zeigen. Die Leute aus seinem Team erzählten mir mehrfach, dass sich in der Vorarbeit während der Recherche ein ziemlich schwarzer Humor etabliert hatte. Es war ihre Art, sich gegen den Schrecken, mit dem sie tagtäglich konfrontiert wurden, zu wappnen.

Wie schwierig war es, das Buenos Aires des Jahres 1985 zu rekreieren?

Wir hatten einen Riesenvorteil. Der Gerichtssaal von damals existiert noch ziemlich genauso, und wir konnten dort drehen, mussten nicht im Studio nachbauen. Das war immer sehr berührend, wenn im mit Komparsen vollbesetzten Saal die Darsteller der Zeugen in der exakt gleichen Kleidung ihre Aussagen machten, die Wort für Wort an dieser Stelle 1985 gemacht worden waren. Es herrschte eine sehr starke Energie im Saal, wir alle hatten immer wieder Tränen in den Augen.

Und von diesem Drehort abgesehen?

Die Stadt selbst hat sich immens verändert, keine Straße sieht mehr so aus wie in den Achtzigern, da mussten wir digital nachhelfen. Aber der größte Teil des Films spielt in Innenräumen, im Gerichtssaal, in den Büros, den Archiven, auch in der Wohnung der Strasseras. Wir wollten diese Enge, diese klaustrophobe Atmosphäre für diese fast unmöglich erscheinende Mission. Aber das Wichtigste war, dass wir nicht von heute auf das Jahr 1985 zurückblicken wollten, es sollte kein historischer Kostümfilm werden. Wir wollten den Film so drehen, als wären wir mittendrin. Es sollte eine subtile Rekonstruktion dieser Ära sein. Daraus ergab sich automatisch, wie die Bilder inszeniert sind, wie die Figuren sprechen, wie sie sich bewegen, alles.

Vier Jahrzehnte später sind viele Verantwortliche noch immer nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Wie sehen Sie die Situation in Argentinien heute?

Der Prozess von 1985 war nur der Anfang. Seitdem wurden unzählige weitere Prozesse geführt, Tausende Einzelpersonen und Unternehmen verurteilt. Der Kampf um Gerechtigkeit und Menschenrechte ist ein wichtiger Antrieb in Argentinien. Und ich hoffe, dass der Film diesen Kampf ins Zentrum des öffentlichen Interesses bringt, dass darüber geredet wird. Ich glaube, er könnte Teil des Schulunterrichts werden. Ich bin Regisseur, ich liefere keine Botschaften, aber ich habe den Film auch gemacht, weil mir der Rechtsruck und die Geschichtsvergessenheit große Sorgen machen.

Ihr Film ist nun weltweit als Stream zu sehen. Was erhoffen Sie sich als Reaktionen?

Es war schwer, sich mit diesem Stoff auseinanderzusetzen, weil er noch immer eine Wunde in unserem Land ist. Der Prozess fiel in eine Zeit, als Argentinien noch eine sehr junge Demokratie war, umgeben von lauter Diktaturen, in Chile, in Uruguay, in Brasilien, in Paraguay. Er ist eines der wenigen Dinge, auf die unser Land stolz sein kann. Und so spezifisch es um die Junta in meinem Land geht, hoffe ich, dass es auch allgemeiner kollektive Traumata reflektiert, in Gesellschaften wie Südafrika, Spanien und anderswo, in denen Täter und Opfer nach dem Ende eines Kriegs oder einer Diktatur oft als Nachbarn weiterleben müssen. Wir brauchen Gerechtigkeit, um die Wunden der Gesellschaft zu heilen und in einer Demokratie zu leben.

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